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Relativ. Neue Grenzwerte würden automatisch viel mehr Menschen zu Bluthochdruck-Patienten machen.

©  dpa/Monique Wüstenhagen

Bluthochdruck: Der stille Killer

Bluthochdruck spürt man nicht. Das macht ihn so gefährlich. Welche Werte sind gesund – und wie schafft man es, Patienten zur Medikation zu motivieren?

Lars K. war ein sportlich-schlanker, gebildeter Mann. Er wusste selbstverständlich, dass seine Art, mit Stress umzugehen, nicht gesund war. Vor allem das Rauchen und der viele Rotwein. Er wusste auch, dass sein Blutdruck zu hoch war. Doch sollte er sein ganzes Leben lang täglich Tabletten nehmen, um ein Übel zu bekämpfen, das abstrakt blieb, nicht zu spüren war? Irgendwann hörte er damit auf, sich bei seinem Hausarzt ein neues Rezept zu holen. Mit 59 Jahren starb er ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Das war vor 20 Jahren, im Urlaub auf einer spanischen Insel.

Heute, 2018, hätte die Geschichte von Lars womöglich nicht dieselbe tragische Wendung genommen. „In Deutschland hat sich in Sachen Bluthochdruck einiges verändert“, sagt Jürgen Scholze. Der Professor forschte lange Jahre an der Berliner Charité zur Hypertonie und behandelte dort unzählige Patienten, bevor er an die auf Herz- Kreislauf-Erkrankungen spezialisierten Kardios-Praxen in Friedenau und am Wittenbergplatz wechselte.

Dass gute Aufklärung und sorgfältige Diagnostik sich auszahlen, zeigt exemplarisch der Nordosten der Republik: In Mecklenburg-Vorpommern, wo zu Beginn des Jahrtausends noch die meisten überhöhten Werte gefunden wurden, wird Hypertonie heute besonders gut in Schach gehalten. „Eine der Regionen Deutschlands, die am schlechtesten abschnitten, ist inzwischen mit die beste geworden“, sagt Scholze. Erhebungen des Robert Koch-Instituts belegen zudem, dass die frustrierende alte Halb-und-Halb-Regel nicht mehr gilt. „Wusste früher nur die Hälfte der Betroffenen, dass sie zu hohen Blutdruck hatten, wurde von ihnen nur die Hälfte behandelt und waren von den behandelten nur 50 Prozent medikamentös gut eingestellt, so wissen heute 70 bis 80 Prozent der Betroffenen Bescheid, von ihnen werden fast 70 Prozent behandelt, und die Hälfte von ihnen sind gut eingestellt“, berichtet Scholze.

Wie hoch darf der Blutdruck sein?

Über viele Gesundheitsempfehlungen kann man streiten. Mindestens zwei gehören nicht dazu: Mit Rauchen aufzuhören und darauf zu achten, dass der Blutdruck nicht im Lauf der Jahre unbemerkt in die Höhe schnellt. Denn das sind zwei wichtige Stellschrauben, an denen man, anders als am zunehmenden Lebensalter, drehen kann, wenn man das Risiko für Arteriosklerose, Herzinfarkt oder Schlaganfall vermindern möchte. Doch wie hoch darf Blutdruck sein? Lebensjahre plus hundert, so lautete früher einmal die Empfehlung für den oberen, den systolischen Wert, der (als Millimeter auf der Quecksilbersäule) gemessen wird, während sich der Herzmuskel zusammenzieht. Aber einen systolischen Wert von 180 mmHg würden Ärzte heute auch bei einem Hochbetagten als gefährlich ansehen.

Auch Älteren empfehlen US-amerikanische Herzspezialisten in ihrer neuen Leitlinie zur Hypertonie jetzt sogar Zielwerte von höchstens 130 zu 80 mmHg. Vor allem, falls sie noch aus anderen Gründen ein mindestens zehnprozentiges Risiko tragen, in der nächsten Dekade einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu bekommen. Die Kardiologen reagierten damit im November 2017 auf Ergebnisse einer Untersuchung mit 9300 Teilnehmern über 50, die vor zwei Jahren wegen ihrer klaren Ergebnisse vorzeitig abgebrochen wurde. In dieser „SPRINT“-Studie hatten Patienten mit einem vorgeschädigten Herzen sogar davon profitiert, wenn die Werte auf 120 zu 80 mmHg gesenkt wurden. Sie waren auf diese Weise besser vor Infarkten, Schlaganfällen, Herzschwäche und Tod durch Herz-Kreislauf- Leiden geschützt als Teilnehmer der anderen Gruppe, deren Zielwert 140 zu 90 mmHg betrug: Bei den Teilnehmern, deren systolischer Blutdruck sehr niedrig gehalten wurde, sank das Risiko für diese lebensbedrohlichen Leiden um ein Drittel.

Die Fachgesellschaften in Kanada, Australien und Österreich und die Internationale Hypertonie-Gesellschaft (ISH) hatten schnell reagiert, sie empfehlen aufgrund der Ergebnisse der Studie jetzt eine intensivere Blutdrucksenkung. Dass nun auch die US- Kardiologen mit einer Leitlinie nachgezogen haben, sorgt dort für großen Wirbel. Fast 80 Prozent der Amerikaner über 65 haben heute Werte über den im neuen Papier gerade noch tolerierten 130 mmHg. Die Hochdruck-Diagnosen bei Männern unter 45 würden sich auf einen Schlag verdreifachen, bei Frauen unter 45 verdoppeln. Insgesamt hätten 103 Millionen US-Bürger nach den neuen Kriterien einen zu hohen Blutdruck, während es mit dem gnädigeren Wert von 140 zu 90 mmHg „nur“ 72 Millionen waren.

Oft schnellen die Werte nur wegen der Aufregung beim Arztbesuch nach oben

Relativ. Neue Grenzwerte würden automatisch viel mehr Menschen zu Bluthochdruck-Patienten machen.
Relativ. Neue Grenzwerte würden automatisch viel mehr Menschen zu Bluthochdruck-Patienten machen.

©  dpa/Monique Wüstenhagen

Die Deutsche Hochdruckliga sieht die neuen strengeren Zielwerte skeptisch. Auch aus der Sorge heraus, dass einige ältere Patienten durch drastische Senkung der Werte von Schwindel und Kreislaufproblemen bedroht wären. In ihren in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ veröffentlichten Empfehlungen raten Experten deshalb nur einer kleineren Gruppe vorerkrankter Patienten dazu, die – gegenüber der US-Empfehlung etwas moderateren – Richtwerte 135 zu 85 mmHg einzuhalten. „Eine intensivere Blutdrucksenkung geht mit mehr Nebenwirkungen einher“, sagt Bernhard Krämer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga.

Gleich auf das erste auffällige Messergebnis in der Arztpraxis hin Medikamente zu verschreiben, empfiehlt sich ohnehin nicht. Vor lauter Aufregung schnellen die Werte oft nach oben – die so genannte „Weißkittel-Hypertonie“. Die Teilnehmer der „SPRINT“- Studie wurden deshalb einem automatischen Gerät anvertraut, das in einem separaten Raum stand. Übersetzt in die Alltagswelt außerhalb von wissenschaftlichen Studien bedeutet das: Besteht Verdacht auf Bluthochdruck, sollten Betroffene morgens und abends zu Hause ihren Blutdruck messen. Und zwar ganz in Ruhe, mehrfach hintereinander, nach allen Regeln der Kunst und mit einem Gerät, das etwa die Hochdruckliga auf ihrer Webseite (www.hochdruckliga.de) empfiehlt. Wenn unter diesen entspannten Umständen die Werte zu hoch sind, muss man das ernst nehmen.

Und dann? „Liegen sie über 140 zu 90 mmHg, sollte der Hausarzt der Sache nachgehen“, sagt Scholze. Das heißt aber nicht, dass Ärztin oder Arzt sofort den Rezeptblock zücken müssten. „80 Prozent unserer Patienten haben Übergewicht, sie können viel erreichen, wenn sie fünf bis zehn Prozent abnehmen.“ Ein paar Kilo verlieren, körperlich aktiver sein und etwas weniger Salz zu sich nehmen: Damit lassen sich die Werte meist deutlich senken. „Studien belegen, dass das möglich ist, doch es ist ausgesprochen schwer, lieb gewordene Gewohnheiten zu verändern“, so Scholze. Andererseits gibt es eine Minderheit von Menschen mit zu hohem Blutdruck, die schlank und sportlich sind. An ihrem Lebensstil können sie kaum noch etwas verändern, an ihren Genen noch weniger.

Die Wahl der Tabletten ist eine Wissenschaft für sich

Bleiben Tabletten. Die Wahl des richtigen aus einer ganzen Reihe von Wirkstoffen oder der passenden Dosierung ist eine Wissenschaft für sich. Schon weil es komplizierte Prozesse sind, die den Blutdruck regulieren, darunter die Spannung der Wände der Blutgefäße und der Salz- Wasser-Haushalt des Organismus. „Die Patienten sind häufig enttäuscht, wenn sie eine Tablette nehmen und es tut sich wenig. Der Körper geht dann oft Umwege, um den hohen Blutdruck aufrecht zu erhalten“, erläutert Hochdruckspezialist Scholze. Er verordnet deshalb häufig Kombinationspräparate, die zwei Wirkstoffe enthalten. Die Betroffenen fühlten sich dann weniger krank, als wenn sie mehrere Pillen einnehmen müssen. Zudem fallen die Nebenwirkungen wegen der geringeren Dosierung der Einzelwirkstoffe auch schwächer aus.

Wenn es auch mit einem Kombinationspräparat nicht auf Anhieb klappt, die Werte auf ein gesundes Maß zu senken, muss oft weiter nach Gründen für den Hochdruck gesucht werden. Liegt es am Herz, der Nierenfunktion, den Hormonen, einer Schlafapnoe oder womöglich der Schilddrüse? „In solchen komplizierten Fällen ist es besonders wichtig, dass die Patienten sich bei ihrem Arzt gut aufgehoben fühlen“, sagt Scholze. Ist zunächst der Hausarzt gefragt gewesen, so sollte nun ein Hypertonie-Spezialist hinzugezogen werden, also ein Allgemeinmediziner, Internist, Kardiologe oder Nierenspezialist, der regelmäßig Weiterbildungsveranstaltungen besucht und das Zertifikat der Deutschen Hochdruckliga trägt.

Ein Teil der Patienten nimmt allerdings auch die verordneten Mittel nicht – oder nur so lange, bis die Messwerte gesunken sind. Und das nicht allein wegen der Nebenwirkungen. Verständlicherweise gibt es auch sonst große Vorbehalte gegenüber Medikamenten, die ein Leben lang eingenommen werden müssen, obwohl man sich gar nicht krank fühlt. Doch es herrscht auch eine große Scheu, dem Arzt zu offenbaren, dass man die verordneten Pillen nicht mehr anrührt. „Oft ist es in der Praxis nicht einfach, diese Patienten auszumachen und auch nicht leicht, ihre Haltung zur Medikation zu ändern“, berichtete der Charité-Nierenexperte Walter Zidek kürzlich beim Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Hochdruckliga in Mannheim.

Obwohl auch die Ärzte in Praxen und Kliniken zunehmend „unter Druck“ stehen, müssen sie sich immer wieder Zeit nehmen für Gespräche. Müssen immer wieder erläutern, dass die Werte derzeit gut sind, weil der Bluthochdruck erfolgreich behandelt wird. „Wenn man sie absetzt, kommt man in das gleiche Fahrwasser“, stellt Scholze nüchtern fest. Ein lebensgefährliches Fahrwasser.

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