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Jury-Präsidentin Juliette Binoche überreicht den Goldenen Bär an den israelischen Regisseur Nadav Lapid.

© Ralf Hirschberger/dpa

Bilanz der Berlinale 2019: Der richtige Film gewinnt den Goldenen Bären

Die Berlinale-Jury unter Juliette Binoche setzt mit ihren Auszeichnungen die richtigen Zeichen. Ein schwacher Jahrgang endet damit noch versöhnlich.

Von Andreas Busche

Ein besseres Ende für das Drehbuch der 18-jährigen Ära Dieter Kosslicks lässt sich kaum denken. Mit Angela Schanelec und Nora Fingscheidt standen zwei deutsche Regisseurinnen im Wettbewerb der 69. Berlinale, beide zeichnete die Jury unter Leitung von Juliette Binoche bei der Bären-Gala im Berlinale Palast aus. Schanelec, die nach Filmemachern wie Christian Petzold oder Maren Ade als letzte Vertreterin der sogenannten Berliner Schule endlich am Wettbewerb teilnahm, erhielt den Silbernen Bären für „Ich war zuhause, aber …“. Fingscheidt wurde für ihr Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ mit dem Alfred-Bauer-Preis geehrt, er geht an Produktionen, die „neue Perspektiven der Filmkunst eröffnen“. Es ist das versöhnliche Finale eines – trotz nur 16 Filmen – mitunter zähen Wettbewerbs, der sich seine Höhepunkte bis zum Schluss aufhob.
Zum Beispiel Nadav Lapids Siegerfilm „Synonymes“, der hochverdient den Goldenen Bären erhält. Oder Wang Xiaoshuais dreistündiges Familiendrama „So Long, My Son“, der einzige Wettbewerbsbeitrag aus China, nach dem Abzug von Zhang Yimous „One Second“ – offenbar wegen Verschärfung der Filmfreigabe in der Volksrepublik. Die Schauspielerpreise gingen an Wang Jingchun und Yong Mei für ihre Darstellung eines Ehepaars, das über einen Zeitraum von 30 Jahren den Verlust seines Kindes zu verarbeiten versucht. Die beiden Filme könnten stilistisch kaum unterschiedlicher ausfallen, sie vermessen die erzählerische Bandbreite des Wettbewerbs.

Der Siegerfilm: Kino mit Körperspannung

„Synonymes“, nach „Eine fantastische Frau“ von 2017 der nächste Festival-Erfolg der Berliner Produktionsfirma Komplizen Film („Toni Erdmann“), erzählt mit explosiver Energie von der Sinnsuche des jungen Israeli Yoav. Nach einem traumatischen Militärdienst verlässt er sein Heimatland, um in Paris einen neuen Lebensmittelpunkt zu finden. Die Radikalität, mit der Yoav sich seine Identität regelrecht herauszureißen versucht, findet seine Entsprechung in der sehnigen Physis von Tom Mercier, der mit wahnwitziger Körperspannung durch die Straßen von Paris rennt und dabei sein Hebräisch Vokabel für Vokabel exorziert. In seiner impulsiven Ruhelosigkeit kommt eine innere Verzweiflung zum Vorschein, die weder spontaner Sex noch ekstatischer Tanz zu kompensieren vermag. Seine existenzielle Selbstentwurzelung ist ein Experiment, das genauso viele Energien freisetzt wie verbrennt. Was kann man sich vom Kino mehr wünschen?

Ganz anders „So Long, My Son“. Die elliptische Erzählung wechselt subtil und nahezu unmerklich zwischen den Epochen (von der sterbenden Blüte des Kommunismus bis in die Hochglanzmoderne) und legt dabei ohne äußere Erregung einen melodramatischen Kern frei. Ästhetisch steht Wang Xiaoshuais Epos im Zeichen eines Realismus, wie ihn die sechste Generation chinesischer Filmemacher im Weltkino etabliert hat. Es ist das ruhige Spiel von Wang Jingchun und Yong Mei, das die Tragik der gesellschaftlichen Umwälzungen nachwirken lässt, bis hinein in den Nukleus der Familien.

Kosslick hat die Berliner Schule gefördert

Bekannte Muster bedient hingegen der Große Preis der Jury für François Ozons Missbrauchsdrama „Grace à dieu“. In Frankreich versucht die katholische Kirche, den Kinostart zu verhindern. Dadurch erhält der Film zusätzliche politische Brisanz, mit der sich die Berlinale unter Kosslick gerne schmückt. Emin Alpers feministische Parabel „A Tale of Three Sisters“ wäre die bessere Wahl gewesen, künstlerisch wie politisch.
Dennoch haben Juliette Binoche und ihre Jury das Beste aus diesem Jahrgang herausgeholt. Stimmig ist vor allem die Auszeichnung der beiden deutschen Preisträgerinnen. Dieter Kosslick war 2002 unter anderem angetreten, das deutsche Kino wieder mit der Berlinale zu versöhnen. Unter seinem Vorgänger Moritz de Hadeln hatten sich viele Filmschaffende vom Festival abgewandt, einigen diente er in der Ära des „Rumpelkinos“ gar als Sündenbock für den miserablen Zustand des deutschen Films.

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Kosslick hatte als Kind des hiesigen Fördersystems immer ein pragmatisches Verhältnis zum hiesigen Kino, und er wusste es im richtigen Moment zu verteidigen. Gleichzeitig steht er bis heute zu der Entscheidung, Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ 2006 nicht in den Wettbewerb aufgenommen zu haben. Kosslick hat sich auch früh als Förderer der Berliner Schule hervorgetan, nicht zuletzt gegen die unverbesserliche deutsche Kritik. Christian Petzold, Maren Ade, Ulrich Köhler, Valeska Grisebach, Thomas Arslan, sie alle konkurrierten im Lauf der Jahre um Bären, meist mit Erfolg. Dass nun auch Schanelec Silber gewinnt, ist vielleicht die schönste Geschichte dieser Berlinale. Die Jury hat mit ihren Hauptpreisen ein Zeichen gesetzt, sie positioniert das Festival in Kosslicks letztem Jahr mit einer klaren ästhetischen Haltung zwischen Cannes und Venedig.

Das deutsche Kino ist beim Nachfolger gut aufgehoben

Und die Nachfolger Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek? Das Profil der Berlinale ist dringend überarbeitungswürdig: Der Sektionen-Wildwuchs muss gestutzt, die Verantwortlichkeit in der Programmgestaltung klarer strukturiert werden. Das Panorama etwa hat sich in seiner jetzigen Form überlebt, das Forum wirkte in diesem Übergangsjahr etwas steif. Der Fokus lag auf essayistischen Formen und Dokumentarfilmen, man vermisste die unter Ulrich Gregor eingeführten Länderreihen, Genrekino sowie die Vertreter des US-Independentkinos, die das Programm stets bereicherten.

Um sein Vermächtnis muss sich Dieter Kosslick keine Sorgen machen. Der deutsche Film wird auch unter Chatrians künstlerischer Leitung zu seinem Recht kommen. In dessen letztem Jahr als Locarno-Chef wurde Eva Trobischs „Alles ist gut“ als bester Debütfilm ausgezeichnet.

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