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Das Eva-Maria-Buch-Haus in der Götzstraße beherbergt die Bezirkszentralbibliothek von Tempelhof-Schöneberg.

© imago/Joko

Update

„Bibliotheken müssen sich klar positionieren“: Buchlesungen sind die Reaktion auf Bücherzerstörungen in Berlin

Im August und September wurden in der Bezirksbibliothek in Tempelhof Bücher zerstört. Eine Lesungsreihe soll die Titel in den Mittelpunkt rücken.

Hinter Patrick Stegemann und Sören Musyal sind die Mathematik-, Medizin- und Psychologiebücher aufgereiht, vor ihnen erheben sich die Treppenstufen, die zur Kinderabteilung führen. Die Stufen sind restlos gefüllt, Jugendliche sitzen hier, viele Erwachsene. Bezirks-Zentralbibliothek Tempelhof, draußen ist es längst dunkel, ein Abend Ende Oktober, Stegemann und Musyal lesen aus ihrem Buch „Die rechte Mobilmachung: Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen“.

Die Autoren reden über Facebook, „über die Plattform, die so funktioniert, dass Rechte erfolgreich sind“, über die Macht des Konzerns. Und irgendwann sagt Stegemann: „Die Zerstörungen sind eine Art Bestätigung unserer Arbeit. Wenn man diese Leute stört, ist das wichtig für die Demokratie.“

„Zerstörungen“, das Stichwort. Damit ist klar: Hier findet keine normale Buchlesung statt. Hier wird die machtvolle Antwort auf einen Frevel gegeben.

Das Buch von Stegemann und Musyal gehört zu den Titeln, die ein oder mehrere Täter im August und September zerstört haben. Die Seiten zerschnitten oder herausgerissen und dann in Ecken der Bücherei abgelegt. Titel, die sich kritisch mit rechten gesellschaftlichen Tendenzen, linken Theorien oder mit der Geschichte des Sozialismus beschäftigen. Man vermutet, dass der oder die Täter aus dem Reichbürger- oder dem rechtsextremen Milieu kommen.

Aber was er oder sie ganz sicher nicht gewollt haben, formuliert ein paar Stunden vor der Lesung Matthias Steuckardt in einem Büro der Bezirksbibliothek: „Aus diesem schrecklichen Vorfall ist sehr viel Positives entstanden“, sagt der Bezirksstadtrat für Kultur von Tempelhof-Schöneberg. „Der Täter wollte ja, das wir solche Bücher nach hinten stellen und verstecken, aber wir werden sie in den Mittelpunkt stellen.“

Es ist Teil der machtvollen Antwort auf den Frevel. Zu der Antwort gehört auch die Lesungs-Reihe „Starke Seiten“ in der Bezirksbibliothek, mit Autoren, deren Titel zerstört wurden. Am 11. November wird Michael Kraske aus „Tatworte“ lesen. Zerfleddert worden war sein Buch „Der Riss: wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört“.

Solidarität mit der Bücherei

Machtvoll ist auch die Solidarität für die Bibliothek. Die Zerstörungen erzeugten bundesweit Empörung und Wut. Die Stadtbibliothek Neuss hat in einer Vitrine die gleichen Titel aufgestellt, die beim ersten Vorfall in Tempelhof zerstört worden sind. Die Bibliotheken in Trier und Weimar prüfen, ob sie den Themenbereich, zu dem die betroffenen Bücher gehören, stärker präsentieren. Und das sind nur Ausschnitte der Solidarität.

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Neben Steuckardt sitzt Boryana Rickum, der Leiter des Fachbereichs Bibliotheken in Tempelhof-Schöneberg. Er sagt: „Viele Bibliotheken in Deutschland haben sich nach den Vorfällen gegen Rechts positioniert.“ 2800 Personen lasen im August seinen Tweet über die Buchzerstörungen. Die Verlage, deren Titel zerstört wurden, werden zusätzliche Titel liefern, bis jetzt gehen Geldspenden ein, die Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg hat für „Starke Seiten“ 2000 Euro genehmigt.

Ein Spender gibt die Titel der zerstörten Bücher ab

Und dann gibt es jene Geschichte, die Steuckardt nur berichtet worden war, die ihn aber emotional am meisten berührte. Ein Besucher, der anonym bleiben wollte, brachte neue Exemplare jener Titel, die beim ersten Vorfall zerstört worden waren, jedes Buch mit Schleifchen umwickelt.

Die Literatur zur kritischen Auseinandersetzung mit rechten gesellschaftlichen Tendenzen, linken Theorien oder mit der Geschichte des Sozialismus steht jetzt stärker im Zentrum der Bibliothek als früher, zum einen, um sie im Blick zu haben, zum anderen aber auch, um sie prominenter präsentieren zu können.

Die Nachfrage nach den Themengebieten, die von der Zerstörung betroffen sind, steigt

Mit Erfolg: „Die Nachfrage nach diesen Titeln“, sagt Steuckardt, „hat enorm zugenommen.“ Die zerstörten Bücher stehen jetzt in einer Vitrine im Foyer der Bücherei. „Wenigstens“, sagt Rickum, „gab es nur in unserer Bibliothek diese Zerstörungen.“

Der Fachbereichsleiter hat dem Verbund der Öffentlichen Büchereien in den Bezirken vorgeschlagen, dass auch sie eine Lesereihe zu „Rechtsextremismus und -populismus, rechte Tendenzen“ mit anschließender Diskussion einführen. „Und zwar unabhängig von unseren Vorfällen.“

Buchzerstörungen sind in Deutschland ganz besonders symbolisch aufgeladen

Er will das Thema insgesamt stärker in den Mittelpunkt des Interesses rücken, es soll nicht langsam verschwinden, wenn die Erinnerung an die Zerstörungen in Tempelhof verblassen. „Die Idee“, sagt Rickum, „wurde begrüßt.“

Buchzerstörungen, in einem Land, in dem die Nazis Bücher verbrannt haben, das ist symbolisch extrem aufgeladen. Das bewegt sich in Kategorien, die weit über Sachbeschädigungen hinaus gehen.

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Deshalb sind Rickum und viele andere so entsetzt und empört. „Bibliothekare haben damals den Schergen der Nazis die Liste der Autoren gegeben, deren Bücher dann verbrannt wurden, das darf man nie vergessen“, sagt Rickum. „Es wäre eine schreckliche Vorstellung, dass Bibliothekare das wieder machen.“ Genau deshalb, sagt er, „müssen sich Bibliotheken klar positionieren. Natürlich müssen sie überparteilich sein, aber in diesem Kontext müssen wir trotzdem klar gegen rechte Tendenzen Position beziehen.“

Was passiert, wenn alle Zeitzeugen des Holocaust gestorben sind?

Er denkt an die Zeitzeugen des Holocaust, des Naziterrors, und sagt: „Was ist, wenn diese Menschen tot sind. Dann ist es ganz wichtig, dass sich Bibliotheken klar positionieren.“ Natürlich müssten die bereitstellen, was verlangt werde, aber ein bisschen steuern könnten sie schon.

An diesem Abend muss man bei keinem Zuhörer nachsteuern, alle sind Teil der umfassenden Solidarität. In der untersten Reihe zum Beispiel sitzen einige ältere Damen, bei der Diskussion steht eine von ihnen auf. „Wir sind die ,Omas gegen Rechts’“, verkündet sie stolz. Dann ruft sie zur Teilnahme an einer Demonstration am nächsten Tag auf.

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