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Michael Rohrmann ist einer der wenigen in Berlin, der sozusagen die Lizenz zum Stolpersteine-Verlegen hat

© Anett Kirchner

Gedenktafeln in Steglitz-Zehlendorf: Der Stolperstein-Botschafter

Michael Rohrmann ist einer der Wenigen, die Stolpersteine verlegen dürfen. Er kennt jede Geschichte, die sich in Zehlendorf hinter den eingravierten Namen verbirgt. Gerade junge Leute für seine Sache zu begeistern, sieht er als Berufung.

Wenn Michael Rohrmann durch Zehlendorf läuft, bleibt er bei jedem Stolperstein stehen: liest, hält kurz inne, verneigt sich innerlich; in Gedenken und aus Respekt vor dem Opfer. „Wer einmal geistig über einen solchen Stein gestolpert ist, nimmt jeden einzelnen auf den Gehwegen ernst“, erzählt er. Für ihn sind die zehn Mal zehn Mal zehn Zentimeter großen Betonwürfel mit den gravierten Messingtafeln mehr als Steine. In Zehlendorf kennt er jede Geschichte, die sich hinter den eingravierten Namen verbirgt. „Nicht alle waren gut, denn Opfer sind nicht immer Engel.“ Aber - er spricht langsam und mit gedämpfter Stimme weiter: jeder war ein Mensch, der während der NS-Zeit ohne Grund verfolgt oder getötet wurde. Rohrmann ist einer der wenigen in Berlin, der sozusagen die Lizenz zum Stolpersteine-Verlegen hat.

„Ich kenne nur zwei Leute, die das machen dürfen“, sagt er und lächelt in dieser bestimmten Weise, die zeigt, wie stolz er darauf ist. Denn normalerweise verlegt der Künstler Gunter Demnig die Stolpersteine selbst. Es geht auf seine Initiative zurück, dass dieses Projekt 1992 ins Leben gerufen wurde und inzwischen europaweit verwirklicht wird. Die Steine mit den Gedenktafeln werden in die Gehwege vor den ehemaligen Wohnhäusern oder Arbeitsstätten der Opfer verlegt. Die grundsätzlich per Hand eingravierte Inschrift beginnt zum Beispiel mit den Worten: „Hier wohnte…, hier praktizierte… oder hier lehrte… “.

Unter der Leitung von Michael Rohrmann entstand 2005 im Evangelischen Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf die lokale Initiative „Stolpersteine“. Seither konnten hier schon mehr als 200 solcher Gedenksteine verlegt werden; jeweils finanziert mit Spenden. Eine Patenschaft für das Herstellen und Verlegen eines Steines kostet 120 Euro. Eine Karte im Büro von Michael Rohrmann zeigt, dass es in Zehlendorf 320 Opfer gibt, von denen man aktuell weiß.

Am Samstag, den 5. März, um 15 Uhr im Bachstelzenweg 16 in Dahlem findet die nächste Aktion statt. Es werden vier Stolpersteine für Erna, Ruth, Eva und Curt Jakob Eisner verlegt. In diesem seltenen Fall hat die ganze Familie überlebt und ist 1936 nach Holland geflohen. Bei der Verlegung erwartet Michael Rohrmann daher zahlreiche Angehörige aus den Niederlanden. Außerdem werden auch die heutigen Eigentümer des Hauses sowie Jugendliche der Evangelischen Kirchengemeinde Dahlem dabei sein.

Stichwort Jugendliche: sie sind der Grund, warum Michael Rohrmann die Lizenz zum Stolpersteine-Verlegen überhaupt hat. Denn junge Leute für eine Sache zu begeistern, sieht er als seine Berufung. Der gebürtige Berliner, Jahrgang 1956,  wuchs in der Invalidensiedlung in Frohnau auf. Sein Vater, ein Kriegsveteran, habe als Offizier bei den Nazis gedient und sei sieben Mal verwundet gewesen: „Deshalb wohnten wir dort.“ Er habe immer offen über seine Kriegserlebnisse gesprochen; mit großer Reue, wollte nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen. „Die Erzählungen meines Vaters haben mich geprägt“, sagt Rohrmann, der sich wohl auch deshalb für einen christlichen Weg entschied. Als Jugendlicher war er bei den Christlichen Pfadfindern und engagierte sich gern ehrenamtlich im Konfirmandenunterricht.

Er wollte das Projekt unbedingt gemeinsam mit jungen Leuten machen

Nach der Schule lernte der heute 59-Jährige zunächst den Beruf des Technischen Zeichners und studierte später Maschinenbau. So richtig wohl habe er sich jedoch in dem technischen Bereich nicht gefühlt. Nebenbei arbeitete er in verschiedenen Kirchengemeinden; teils als Nebenjob, teils ehrenamtlich. Er war unter anderem Haus- und Kirchwart, half dort, wo man ihn brauchte. Koordinieren, Organisieren, etwas in die Hand nehmen – das ist sein Ding. Und er mag die Gemeinschaft, am liebsten mit jungen Leuten. So lag es nahe, dass er ein zweites Studium begann, im Fachbereich Sozialarbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin.

Inzwischen war er verheiratet und bekam mit seiner Frau drei Kinder. Seinen ersten Job als Diplom-Sozialpädagoge hatte er 1995 als Jugendwart im damaligen Evangelischen Kirchenkreis Teltow. Als die beiden Kirchenkreise Teltow und Zehlendorf 1998 fusionierten, blieb er und kümmert sich seitdem hier um die Jugendarbeit. Deshalb gab es für ihn keine Frage, dass er das Projekt Stolpersteine unbedingt gemeinsam mit jungen Leuten machen wollte.

„Denn das ist anders als Schule, hier können sie sich vor Ort mit dem Schicksal eines Opfers auseinandersetzen“, begründet er. Weil es aber nahezu unmöglich sei, die freien Termine der Jugendlichen mit den Terminen des Künstlers Gunter Demnig zu vereinbaren, entstand die Idee, die Stolpersteine selbst zu verlegen. Er fragte den Künstler und der habe sofort geantwortet: „Ja, mach’ doch!“

So leicht? Nein. Das klingt jetzt einfach, soll aber eher die Ausnahme bleiben, betont Rohrmann. Den überwiegenden Teil der Stolpersteine verlege Gunter Demnig nach wie vor selbst; vor allem die Erstverlegungen in einem Ort seien ihm wichtig. Die beiden Männer kennen sich gut. Rohrmann hat den Künstler jahrelang hier in Zehlendorf beim Verlegen der Steine begleitet. Und auch sein Vater erlebte im hohen Alter noch mit, wie der Sohn dieses Projekt der Erinnerungskultur mitgestaltet. „So schließen sich Kreise“, sagt Rohrmann.

Er kennt jeden Gedenkstein in Zehlendorf

Und wie funktioniert das Verlegen? In Zehlendorf liegen meistens die kleinen Pflastersteine in den Gehwegen, erklärt Rohrmann. Das sei günstig. Er heble fünf bis sechs Steine mit einem Schraubenzieher heraus und grabe das Loch noch etwas tiefer. Dann werde Wasser und Mörtel - eine Art Fertigzement - hinzugefügt und der Stolperstein eingesetzt. „In zehn Minuten ist der Mörtel fest.“ Etwas komplizierter sei es bei den so genannten Berliner Wegplatten: 25 Mal 25 Zentimeter groß. Diese müssten herausgenommen und vom Tiefbauamt extra zugeschnitten werden. Die Kooperation mit dem Bezirksamt funktioniere gut. Es existiere eine schriftliche Vereinbarung zwischen dem Superintendenten und dem Bezirksbürgermeister, dass überall im öffentlichen Straßenraum Stolpersteine verlegt werden dürfen.     

Kein Wunder, dass er im Grunde jeden der Gedenksteine in Zehlendorf kennt. Bei manchen bleibe er auch länger stehen, weil die Geschichten dazu besonders traurig sind. So beschäftigen ihn im Moment fünf Stolpersteine für fünf Jungen, zwischen zehn und 13 Jahre alt, die er demnächst auf Initiative des Heimatvereines Zehlendorf verlegen wird. Sie hätten in einem Kinderheim in Zehlendorf gewohnt, seien halbjüdisch gewesen, in die „Heilanstalt“ Hadamar gebracht und dort mit einer Medikamentendosis ermordet worden. „Wir müssen wegen unserer Vergangenheit nicht im Boden versinken, aber wir sollten sie kennen“, erklärt Rohrmann noch. Das sei für ihn die wichtigste Botschaft, die von den Stolpersteinen ausgehen sollte. 

Die Autorin ist freie Journalistin, wohnt in Steglitz-Zehlendorf, und schreibt als lokale Reporterin regelmäßig für den Tagesspiegel-Zehlendorf. Folgen Sie Anett Kirchner auf Twitter und auch der Redaktion Zehlendorf .

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