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Das große Interview mit Brigitte Grothum: „Mehr Anarchie für Nikolassee!“

Brigitte Grothum, Schauspielerin und Regisseurin, erzählt dem Zehlendorf Blog von ihrem ersten Zehlendorf-Erlebnis, wilden Zeiten in Nikolassee, und warum dieser Stadtteil weder spießig war noch ist.

Eine ruhige Straße ganz in der Nähe vom S-Bahnhof Nikolassee, die Gartentür steht offen, man wird schon empfangen von der 13-jährigen Grete, Brigitte Grothums Hündin. Manfred Weigert, der bekannte Orthopäde und einst Mannschaftsarzt von Hertha BSC, geht einkaufen und grüßt herzlich. Seine Frau sagt ihm noch rasch, was er zu besorgen hat, allerdings lässt er das Garagen-Tor offen stehen. Brigitte Grothum ist 78 Jahre, aber sie sieht noch immer aus wie 60. Sie hat Kaffee gekocht, Erdbeeren und Gebäck stehen bereit. Sie ist entwaffnend natürlich, und sie hat Spaß am Leben. Das merkt man, und es freut einen.

Geboren ist sie in Dessau, der Vater Ingenieur, die Mutter Lehrerin. Sie ist das einzige Kind, wächst auf in Thüringen und in der Mark Brandenburg. Seit 1950 in Berlin. Abitur an der Ricarda-Huch-Schule in Charlottenburg, Schauspielausbildung bei Marlise Ludwig und Herma Clement, 1956 erste Heirat mit dem Dirigenten C.A. Bünte, keine Kinder, 1969 zweite Heirat mit Professor Dr. Manfred Weigert, zwei Kinder: Debora und Tobias. Und jetzt redet sie über Ihre Heimat, über Zehlendorf. Und sie hat sich sogar auf das Gespräch gefreut und war sofort bereit, den Zehlendorf Blog zu unterstützen. Wer mehr wissen will über ihre Karriere und ihre einzelnen Stationen, findet alles auf ihrer Homepage.

Frau Grothum, wie erklären Sie einem Fremden Zehlendorf?

Es ist ein wunderbarer Bezirk mit sehr viel Grün, mit viel Wasser, mit ländlichem Ambiente. Und vor allem mit Menschen, die anders miteinander umgehen, als in der Stadt. Es ist bestimmt der Teil von Berlin, der am wenigsten nach Großstadt schmeckt.

Was heißt das genau, die Menschen hier gehen anders miteinander um?

Das ist selten geworden. Hier haben die Menschen noch für einander Zeit, und man kommt unabhängig von der Profession oder des Namens des anderen ins Gespräch. Es ist hier eine sehr tolerante Gesellschaft. Jeder spricht mit jedem, ohne Vorbehalte. Es ist völlig unspießig, ein bisschen verrückt, aber menschlich.

Das Dorf ist ja oft eher eine geschlossene Gesellschaft. Wie ist das hier in Nikolassee?

Der Unterschied zum wirklichen Dorf, wie Sie sagen, ist hier die große Toleranz und Offenheit gegenüber allen, die hierher kommen.

Zu Hause in Nikolassee. Brigitte Grothum mit ihrer Hündin Grete.
Zu Hause in Nikolassee. Brigitte Grothum mit ihrer Hündin Grete.

© Thilo Rückeis

Erleben Sie hier Momente, die Sie woanders nicht haben?

Ja, das passiert mir hier immer zu, das sind magische Momente. Ich habe ja auch viel Theater am Ku’damm gespielt. Da ist man vorher aufgeregt und hinterher immer noch, und dann fährt man über die Avus, steigt hier aus und ist ruhig. Man kann hier freier atmen und kommt zur Ruhe. Das ist ein großes Geschenk. Das hat auch Günter Pfitzmann immer gesagt, den ich oft nach der Vorstellung mit nach Hause genommen habe.

Können Sie sich an Ihr erstes Zehlendorf-Erlebnis erinnern?

Aber ja! Ich bin in Dessau geboren, später in der Mark Brandenburg aufgewachsen, aber 1950 haben wir „rübergemacht“, wie man sagt. Mein Vater war Flüchtling, meine Mutter und ich kamen legal raus. Und wir standen damals, aus Borkheide kommend, auf dem Bahnhof Wannsee mit den Koffern, und da war der erste Eindruck der Camel-Geruch einer Zigarette. Das kannten wir nicht aus dem Osten. Das war der Inbegriff des Westens für mich, diesen Geruch werde ich nie vergessen.

Wie ging es weiter?

Mein Vater hatte Bekannte in Zehlendorf, und ich weiß noch ganz genau, wie wir hier zu diesem Bahnhof in Nikolassee fuhren. Mein erstes Bild war also die damals noch völlig anders aussehende Ladenstraße von Nikolassee. Ich ahnte nicht, dass ich einmal genau hier leben und sehr glücklich werden würde.

Wie haben Sie Ihr Haus gefunden?

Ich habe ja an sehr vielen Orten gewohnt. In meiner ersten Ehe erst Lichterfelde, später Neu-Westend, nach der Scheidung im Grunewald, und als ich meinen jetzigen Mann…

…den Orthopäden Manfred Weigert

…kennen gelernt habe, haben wir in der Nähe des Oskar-Helene-Heims gewohnt. Dann wieder Grunewald, später in der Wasgenstraße in Nikolassee, und schließlich sind wir hier gelandet. Aber das ist eine längere Geschichte.

Nur zu...

Das Haus gehörte Willi Zeller, dem Boxpromotor. Es war im Prinzip ein Boxstall mitten in Nikolassee, im Garten stand ein Boxring. Das ganze Haus war in einzelne Zimmer eingerichtet, wo die Boxer wohnten, die Zeller beherbergte. Von außen sah das mit den roten Markisen an allen Fenstern aus wie ein Puff. Hier ist der Weltmeister Eckhard Dagge sozusagen gemacht worden, der ja erst mit 20 angefangen hat zu boxen. Er war der zweite deutsche Profiweltmeister nach Max Schmeling. Und Dagge war Patient bei meinem Mann, bis er Weltmeister wurde, wir kannten uns also gut. Eines Tages sagt er zu uns, der Zeller muss sein Haus verkaufen, fragt doch mal, wenn ihr Interesse habt.

Sie mussten es vermutlich umbauen…

Total. Aber erst hier sind wir zu echten Zehlendorfern geworden, ich bekenne mich total zu diesem Ort. Hier schmetterte die Opernsängerin Sieglinde Wagner ihre Arien und der Opernsänger Karl-Josef Hering lud spontan zu Partys in die Fischerhütte ein. Günter Pfitzmann kam abends öfter vorbei und politisierte gerne mit meinem Mann. Ach, es gibt so viele Geschichten und so viele Menschen, die wunderbar verrückt waren hier.

Hört sich sehr wild und weniger spießig an…

Das war es auch, es war nie spießig, sondern total wild. Mein Mann war ja auch Mannschaftsarzt bei Hertha BSC und später bei Blau-Weiß 90, wir haben hier so viele Partys gefeiert, einmal kam die ganze Mannschaft von Blau-Weiß zum Spanferkelessen. Am Ende haben alle im Schwimmbad gelegen, mein Mann musste einige Leute nähen, weil sie sich irgendwelche Wunden zugezogen hatten beim Reinspringen. Ich selbst hatte mir was aufgerissen, weil die mich ins Wasser geschmissen haben. Und von nebenan kamen die Leute einfach dazu. Das war so und ist so, die Türen stehen hier offen.

Was war das für ein Lebensgefühl?

Wunderbar. Es war ein wunderbares Lebensgefühl, und wir waren da ja auch schon über 40 und hatten Kinder. Wir haben beide, mein Mann und ich, immer hart gearbeitet. Aber wir haben trotzdem gefeiert. Es war unbeschwert. Heute ist alles so lustlos geworden. Man hat das Gefühl, die Leute haben keinen Spaß mehr, keinen Spaß an ihrer Arbeit und auch keinen am Leben. Wir hatten Spaß.

Was hat sich geändert?

Alles, die ganze Art, die Lebensfreude der Menschen. Es waren ja damals auch nicht nur reiche Leute bei uns, sondern Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. Kleine Tänzer, unbekannte Autoren. Nur ist heute der Existenzkampf für jeden viel größer geworden und damit auch die Lebensängste. Auch im Theater haben die Leute früher beisammen gesessen nach einer Probe und haben geschwatzt. Immer. Heute geht man zur Probe wie in ein Ingenieursbüro und danach wieder nach Hause. Die Menschen sind beschwert, sie tragen eine Bürde mit sich herum, und das ist schade, weil es die Empathie für das Leben nimmt.

Was vermissen Sie?

Ich vermisse Leidenschaft! Allen ist heute alles irgendwie egal.

Ist das generell so oder speziell hier in Zehlendorf?

Schwer zu sagen. Aber die Struktur hier im Stadtteil hat sich schon gewaltig verändert. Es leben nicht mehr so verrückte Hühner hier wie früher. In die großen Villen sind viele Botschaften gezogen, auch Altersheime oder Familien, die sehr hart arbeiten müssen, um sich dieses Leben zu ermöglichen. Wilde Partys feiert niemand von den genannten Beispielen. Es ist insgesamt älter geworden und ein Stück gediegener.

Es gibt das Zehlendorf-Klischee: reich, langweilig, fein.

Das stimmte weder heute noch früher. Früher war es wirklich eine verrückte Gesellschaft. Es haben ja auch so viele ungewöhnliche Leute hier gewohnt, die man gar nicht alle aufzählen kann, von Hein Rühmann zu Rudi Dutschke. Viele Künstler und Intellektuelle. Das war niemals die High Society, die sich freut, sich im Grünen den Hintern zu wärmen.

Es gibt kein tieferes Geheimnis in Zehlendorf?

Nein, es ist nur schön!

Gibt es irgendetwas, was doch besser werden könnte, gibt’s denn nichts zu Meckern?

Wir sollten ein wenig südlicher reagieren, weniger bürokratisch, wenn ein Geschäft mal selbstgebackenen Kuchen verkaufen will, sollte nicht gleich das Ordnungsamt einschreiten. Wir sind hier sehr preußisch. Ich wünschte mir wieder ein bisschen mehr Anarchie nach Nikolassee.

Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

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