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Seite 3 im Tagesspiegel - zum Ende der renommierten Tageszeitung "Spandauer Volksblatt".

© Tsp

Letzte Tageszeitung vor 25 Jahren: Günter Grass, Willy Brandt und das "Spandauer Volksblatt"

Am 29. Februar 1992 war Schluss beim "Volksblatt" - einer Zeitung, die auch international Beachtung fand. Lesen Sie hier Erinnerung von Tagesspiegel-Kollegen und die "Seite 3" zum Abschied.

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25 Jahre ist das nun schon wieder her. Damals, 29. Februar 1992, erschien letztmalig die Tageszeitung "Spandauer Volksblatt", an die wir heute an dieser Stelle erinnern wollen - mit kleinen Erinnerungen von Tagesspiegel-Kollegen, die dort einmal gearbeitet haben. Und mit einem großen Tagesspiegel-Text, der damals zum Abschied erschien.

Die erste West-Tageszeitung, die nicht mehr "DDR" schrieb

Das "Spandauer Volksblatt" war ja kein Kiezblatt, sondern ein geachtete Zeitung in der Berliner Medienlandschaft - und darüber hinaus. "Schaffte man doch nicht nur als erste Tageszeitung in Deutschland die Anführungsstriche bei der Nennung der DDR ab, sondern unterstützte auch die Ostpolitik von Willy Brandt", schreibt heute Rainer W. During, der seit 1994 für den Tagesspiegel schreibt und selbst zuvor 24 Jahre lang beim Volksblatt tätig war. "Der Versuch, nach dem Mauerfall den Traditionsmarkt im Havelland zurückzugewinnen, schlug fehl und erste Anteile des Familienunternehmens wurden an den Springer-Verlag veräußert, der letztendlich die Mehrheit übernahm. Ende Februar 1992 erschien die letzte Ausgabe der Tageszeitung, der Versuch, das Spandauer Volksblatt 1992 in eine wöchentlich erscheinende Art Berliner Bild am Sonntag umzuwandeln, war zum Scheitern verurteilt und man entschied sich, den Traditionsnamen auf das verlagseigene Anzeigenblatt Spandauer Anzeiger zu übertragen". Das wird bis heute einmal wöchentlich an die Haushalte verteilt - auch mit relevanten, aktuellen Bezirksnachrichten - und ist inzwischen die Spandauer Ausgabe der heute zur Funke-Mediengruppe gehörenden "Berliner Woche". 

"Die Schauspielerin lernte dort ihre Journalisten-Rolle für den Film"

Nicht nur Rainer W. During hat für die Tageszeitung gearbeitet ("Ich habe dort mal der Schauspielerin Thekla-Carola Wied bei einem Redaktionsbesuch erklärt, wie eine Zeitung gemacht wird, als sie sich auf eine Rolle als Journalistin vorbereitet hat."), auch andere langjährige Tagesspiegel-Kollegen wie Sven Goldmann oder auch Armin Lehmann.

"Das Ende einer mehr als 100-jährigen Zeitungstradition"

Goldmann, viele Jahre Ressortleiter Sport und jetzt Reporter, erinnert sich ganz nebenbei "an die nächtlichen Skatrunden mit dem Chefredakteur, Name tut nichts zur Sache. Nach jeder Runde einen Wodka, polnisch – so hat er das genannt. Ging nicht gut aus für mich". Und Armin Lehmann, viele Jahre tätig als Ressortleiter Politik und Sport, heute Redakteur für besondere Aufgaben beim Tagesspiegel, weiß noch von einer Mikrowelle im Büro zu berichten, "in der ein Kollege wirklich jeden Tag (!) Fisch aufgewärmt hat". Und natürlich gehört auch Tagesspiegel-Kollege Ulrich Zawatka-Gerlach dazu, der beim Volkblatt volontierte, dann zunächst in der Politik- und Wirtschaftsredaktion war und dann Berliner-Rathaus-Reporter wurde und seit 1991 beim Tagesspiegel für die Landespolitik zuständig ist. Vor 25 Jahren, am 29. Februar 1992, schrieb er eine große Reportage, die wir aus diesem Anlass aus dem Tagesspiegel-Archiv hervorholen. Titel: "Das Ende einer mehr als hundertjährigen Zeitungstradition".

Seite 3 im Tagesspiegel - zum Ende der renommierten Tageszeitung "Spandauer Volksblatt".
Seite 3 im Tagesspiegel - zum Ende der renommierten Tageszeitung "Spandauer Volksblatt".

© Tsp

Lesen Sie hier die Reportage zum Ende des "Spandauer Volksblatt"

"Michael Radtke hatte sich schon am vergangenen Montag „auf ein paar Tage Urlaub" verabschiedet, ohne dabei zu erwähnen, daß die Verlagsleitung seine Kündigung bereits in Händen hielt. Ein heimlicher Abgang mit ernstem Hintergrund. Der Rest der Belegschaft des „Spandauer Volksblatts" erfuhr erst am Freitag gegen 11 Uhr, daß sich ihr Blatt heute mit einer letzten Ausgabe vom eng und rabiat gewordenen Markt der Berliner Tageszeitungen verabschieden wird. „In dem sich ständig verschärfenden Wettbewerb hätte eine Fortführung des 'Spandauer Volksblatts' als lokale Tageszeitung unvertretbar hohe zusätzliche Investitionen erfordert. Mit der Umwandlung in ein Wochenblatt werden die Voraussetzungen für eine tragfähige wirtschaftliche Zukunft geschaffen", heißt es lapidar in einer Pressemitteilung der Erich Lezinsky Verlag und Buchdruckerei GmbH.

"Zwischen Heulerei und Randale"

Die 28 Redakteure und Volontäre der Traditionszeitung mochten gestern der Zukunft nicht so frohgemut entgegensehen. „Zwischen Heulerei und Randale" bewegte sich am Freitag nachmittag die Stimmung hinter der buntbemalten Fassade des Verlags- und Redaktionsgebäudes in der Neuendorfer Straße nahe der Spandauer Altstadt. Gerüchte über die Einstellung des Blattes, das sich nach 1945 aus der Berliner Vorortpresse herausschälte und mit einem festen Standbein im Bezirk Spandau im Konzert der Berliner Tageszeitungen so gut es ging mitspielte, waren in den vergangenen Jahren nie ganz verstummt. Erst mit der 24,9-Prozent-Beteiligung des Axel Springer Verlages wurde die brüchige finanzielle Basis des klassischen Familienbetriebes auf eine neue Grundlage gestellt; verloren ging gleichzeitig die verlegerische Unabhängigkeit. Ein strammer Sparkurs wurde gefahren in der Hoffnung auf bessere Zeiten.

Doch vor zwei, drei Tagen, sagen „Volksblatt"-Redakteure, habe sich auf dem Wege des „Flurfunks" herumgesprochen, „daß etwas im Busche ist". Ein Sozialplan wird bereits vorbereitet. Kündigungen wurden noch nicht augesprochen, doch das Gros der Mitarbeiter muß wohl schon im März damit rechnen. Zwei Millionen DM will der Springer Verlag für die „soziale Abfederung", wie es in solchen Fällen heißt, bereitstellen. „Das reicht hinten und vorne nicht", behaupten die Betroffenen. Von den 190 festangestellten Mitarbeitern sollen nur 90 ihren Arbeitsplatz behalten dürfen. Zusteller und freie Mitarbeiter müssen damit rechnen, ihre Beschäftigung zu verlieren. Von den 28 Mitgliedern der „Volksblatt"-Redaktion werden voraussichtlich nur acht für die geplante Wochenzeitung übernommen. Die fünf Volontäre können ihre Ausbildung noch zu ende führen, war gestern zu hören. „Wir haben Angst, die wenigsten haben einen neuen Arbeitsplatz in Aussicht", sagt ein Mitarbeiter. „Im Grunde genommen haben die uns hingehalten und letztlich beschissen." Der Druckereibereich wird wohl ungeschoren bleiben. Zur Zeit wird am Brunsbütteler Damm in Spandau - unmittelbar neben dem geplanten Springer-Druckzentrum - eine Halle für eine neue Rotation gebaut, die im Sommer fertig sein soll. Die gutgehenden Anzeigenblätter des Spandauer Verlages sollen weitergeführt werden; die Auftragslage im Fremddruck sei gut, hieß es gestern. Nach dem Stand von Freitag bleibt der Springer Verlag Minderheitsgesellschafter und die Geschäftsführung in Händen der Verlegerfamilie Below-Lezinsky, gegen die sich der Groll der Belegschaft nun besonders richtet.

Neuer Chefredakteur arbeitete lange in New York

Der neue Chefredakteur Wolfgang Will hat sich der Redaktion bereits gestern vorgestellt. Der gebürtige Berliner kommt vom Springer-Auslandsdienst, lebte und arbeitete lange in New York und war zuletzt im Springer-Stammhaus zuständig für die Entwicklung neuer Medienprojekte. Neuer Verlagschef, so war gestern zu hören, soll der langjährige Leiter der Anzeigenabteilung und „Intimus" der Verlegerfamilie Gerhard Dünnhaupt werden.

Ab jetzt nur noch wöchentlich

Mit der Umstellung vom täglichen auf das wöchentliche Erscheinen wird der Schlußpunkt gesetzt hinter die mehr als hundertjährige Geschichte des „Volksblatts" als Tageszeitung. 1893 war als erste Spandauer Zeitung das „Osthavelländische Volksblatt" erschienen, das 1872 mit dem „Spandauer Volksblatt" (seit 1851) und dem „Neuen Spandauer Anzeiger (seit 1868) verschmolz. Das neue Produkt hieß „Anzeiger für das Havelland". Druckerei und Verlag erwarb die SPD 1919. Das „Volksblatt für Spandau und das Havelland" unter sozialdemokratischer Herausgeberschaft wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten. 1946, nach dem Krieg bildeten dieses alte Volksblatt und die unabhängig davon 1894 gegründete „Spandauer Zeitung" das verlegerische Fundament für die Herausgabe des „Spandauer Volksblatts" in britischer Lizenz.

Auch Günter Grass gehörte zu den Autoren

Herausgeber, Verleger und Chefredakteur des „Volksblatt" war nach Kriegsende der Alt-Sozialdemokrat und Spandauer Abgeordnete Erich Lezinsky, der mit anderen engagierten SPD-Mitgliedern, die die Verfolgung im Dritten Reich überlebt hatten, das neue Blatt aufbaute. Er starb aber bereits 1952. Das „Volksblatt" löste sich früh organisatorisch von der SPD, blieb aber in der Familie. Der Sohn Kurt Lezinsky übernahm die Verlagsleitung, nach dessen Tod 1967 die Schwiegertochter des Zeitungsgründers, Ingrid Below-Lezinsky.

Maßgeblich prägte seit 1962 Hans Höppner als Chefredakteur die publizistische Linie einer Tageszeitung, die immer ein Spandauer Familienblatt war, aber in ihren besseren Zeiten durchaus Einfluß auf die Berliner Zeitungslandschaft nahm. Die Mitarbeit von prominenten „68ern", darunter Günter Grass und Wolfgang Neuss - lesen Sie hier dazu den "Spiegel" aus dem Jahr 1964 - , verschafften dem „Volksblatt" in den sechziger Jahren ebenso Profil wie wegweisende Kommentierungen zur Deutschland- und Berlinpolitik in der Ära nach Adenauer.

„Den Weg nach Berlin zu finden", auch gegen den Wankelmut der Verlegerfamilie, blieb in den siebziger und achtziger Jahren das Bestreben des Chefredakteurs. Er wurde unterstützt von einer jungen Redaktion, die immer mehr wollte als unter den gegebenen Bedingungen möglich war. Auch der Tod des „Abend" und die Namensänderung in „Volksblatt Berlin" im Jahr 1987 brachten das erwünschte Ergebnis nicht. Die Auflage kam über die 30.000 nie wesentlich hinaus. Mit dem „Rückzug aus Berlin" ins Spandauer Stammgebiet - nach dem Einstieg des Springer Verlages und der Maueröffnung - wurde die wiederum in „Spandauer Volksblatt" umgetaufte Tageszeitung in ihren alten Stand eingesetzt: Gute 20.000 Leser blieben zuletzt übrig. Der erhoffte Sprung ins Havelland fand nicht statt. Höppner, der „seinem" Blatt vor zweieinhalb Jahren den Rücken wandte, sieht das Desaster des „Volksblatt" heute aus der Distanz: „Es ist traurig; es hätte auch ganz anders kommen können. Aber was hilft's."

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