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Wilhelminisches Bürgerpaar im Sonntagsstaat: Claire und Philipp Lambertz in den frühen Berliner Jahren. Um 1910 waren sie in die Hauptstadt gezogen, ins Bayerische Viertel.

© privat

Holocaust-Erinnerung: "Vergesst mich nicht"

Vor 75 Jahren begannen die Nazis mit den Deportationen der Berliner Juden. Claire Lambertz aus dem Bayerischen Viertel wurde in Riga ermordet. Ihre Angehörigen erinnern an sie.

Von Markus Hesselmann

Das Fenster, vielleicht ist es zu finden, hier im Kiez. Zwar wurde ein großer Teil der Häuser im Bayerischen Viertel in Berlin durch Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg zerstört. Aber es ist auch einiges erhalten von den einst prachtvollen Gründerzeitbauten. Und auf dem Foto ist es gut zu erkennen, das Fenster über der Tür, das sich durch seine spezielle geschwungene Form in einer Nuance von anderen Ornamenten im Viertel unterscheidet. Das Foto zeigt Claire Lambertz mit ihrem Mann Philipp und eine junge Frau, die in der Mitte steht. Es könnte auf einem Parterre-Balkon aufgenommen sein, aber auch aus einem Hauseingang heraus. Gegen das Licht jedenfalls, auf den Gesichtern liegt Schatten. Am Haus gegenüber ist das Fenster zu sehen. Wenn man es fände, wäre klar, wo die Aufnahme entstand.

Sylvia Runge und Brigitte Zwerger sind nach Berlin gereist, nicht zuletzt um das Fenster zu finden. Claire Lambertz war Brigitte Zwergers Großtante und Sylvia Runges Urgroßtante. Sie wurde 1942 von den Nazis nach Riga deportiert und ermordet. Die junge Frau, die auf dem Foto neben ihr steht, ist Sylvia Runges Mutter Julie Jeanette. Sie hatte wegen ihrer nichtjüdischen Mutter einen gewissen Schutz und überlebte die Nazi-Zeit. Philipp Lambertz war im Februar 1941 nach langer Krankheit gestorben.

Vor 75 Jahren begannen die Deportationen aus Berlin. Zwischen dem 18. Oktober 1941, dem Tag des ersten „Transports“ von 1013 Menschen vom Bahnhof Grunewald nach Lodz, und dem 27. März 1945, als 42 Menschen nach Theresienstadt gebracht wurden, deportierten die Nazis mehr als 50.000 Juden aus Berlin. Mehr als 35.000 wurden erschossen oder vergast. Von den 15.000, die zunächst ins Konzentrationslager Theresienstadt kamen und nicht sofort ermordet wurden, überlebten nur 11 Prozent.

Die letzte Postkarte von Claire Lambertz vor ihrer Deportation.
Die letzte Postkarte von Claire Lambertz vor ihrer Deportation.

© privat

„Meine Lieben. Lebt wohl, alles war vergebens. Am 11. ist mein Schicksal entschieden“, schreibt Claire Lambertz in ihrer letzten Postkarte vom 9. Januar 1942 an ihren Neffen Max in Hamburg. „Vergesst mich nicht.“ Daran halten sich ihre Angehörigen, auch wenn sie Claire Lambertz nicht mehr persönlich kennengelernt hatten, weil sie erst nach dem Krieg geboren wurden. „Man macht eine Entdeckung und wieder eine Entdeckung und daraus ergibt sich die nächste Entdeckung“, sagt Sylvia Runge, die mit ihren eigenen Forschungen die Erinnerungsarbeit ihrer Mutter fortsetzt. Um nicht zu viele schlaflose Nächte zu verbringen, sagt sie, müsse man die Ordner mit den Dokumenten immer mal beiseitelegen.

Zur Sammlung über Claire Lambertz gehören Behördenunterlagen, aber auch Persönliches wie das Foto mit dem Fenster und die letzte Postkarte. „Die Schlusszeile sollte man als ihr Vermächtnis betrachten“, sagt Brigitte Zwerger. „Mein Anliegen ist es, dass Claire Lambertz nicht vergessen wird“, schrieb sie an den Tagesspiegel, weil sie annahm, dass es in der Redaktion ein Interesse an Berliner Erinnerungen gibt.

Brigitte Zwerger und Sylvia Runge erinnern an ihre Großtante bzw. Urgroßtante Claire Lambertz.
Brigitte Zwerger und Sylvia Runge erinnern an ihre Großtante bzw. Urgroßtante Claire Lambertz.

© Markus Hesselmann

Das Fensterfoto, vermutet die Familie, könnte bei einer Bekannten, Elly Reich, gemacht worden sein, die in der Nähe vom Nikolsburger Platz lebte und der Claire Lambertz vor ihrer Deportation Dokumente anvertraut hatte. „Claire ist am Sonntag Abend, ich nehme an so gegen halb sieben Uhr abgeholt worden“, schreibt Elly Reich am 13. Januar 1942, zwei Tage nach der Deportation, an die Verwandten in Hamburg. „Es waren sehr traurige Stunden, die wir noch mit ihr verlebt haben, aber sie war zum Schluß doch sehr gefaßt.“ Sollten die Verwandten eine Nachricht von ihr bekommen, bitte sie darum, „sie mir doch umgehend mitzuteilen“. Doch Claire Lambertz hatte schon in ihrer Postkarte darauf hingewiesen, dass nun nicht mehr geschrieben werden könne. Die Postkarte blieb ihr letztes Lebenszeichen.

Hatte sie Riga überhaupt erreicht in den ungeheizten Waggons, in denen viele Menschen schon vor der Ankunft an Unterkühlung starben? Überstand sie den zweistündigen Fußmarsch durch Schnee und Eis vom Bahnhof zum Ghetto? Oder wurde sie erschossen als eine derjenigen, die diesen Strapazen nicht mehr gewachsen waren? Wie waren die Überlebenschancen einer 60-jährigen Frau in dem Ghetto? Spätestens im Februar oder März 1942 haben die Nazis sie wohl als arbeitsunfähig „selektiert“ und im Wald ermordet. Als offizielles Todesdatum wurde 1950 vom Amtsgericht Schöneberg der 31. Januar 1942 festgelegt.

Kaddisch-Buch mit Todesanzeige für Philipp Lambertz. Als das Kaddisch nach einem Jahr gesprochen werden sollte, war seine Frau Claire bereits von den Nazis deportiert worden.
Kaddisch-Buch mit Todesanzeige für Philipp Lambertz. Als das Kaddisch nach einem Jahr gesprochen werden sollte, war seine Frau Claire bereits von den Nazis deportiert worden.

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Ebenfalls unter den Familiendokumenten erhalten ist das Gebetbuch zum Tod von Philipp Lambertz. „Als für ihren Mann ein Jahr nach seinem Tod das Kaddisch gesprochen werden sollte, war Claire schon nicht mehr da“, sagt Brigitte Zwerger. Ihr Mann starb „nach längerem, schweren Leiden“ am 10. Februar 1941, heißt es in der Todesanzeige, in der auch die Zusatznamen „Israel“ für den Verstorbenen und „Sara“ für die Witwe aufgeführt sind, die Juden ohne „jüdisch klingenden“ Vornamen seit 1939 annehmen mussten. Der spätere Kanzleramtschef Hans Globke, der von den Eheleuten Lambertz damals nur einige Häuser entfernt im Bayerischen Viertel wohnte, hatte als Ministerialrat im Innenministerium das Gesetz verfasst. Vermutlich ist man sich auf der Straße begegnet.

Nach Berlin waren Claire und Philipp Lambertz um 1910 herum gezogen. Er hatte dort einen Generalvertreter-Posten im Spirituosenhandel für die Firma Kantorowicz angenommen. Ein Bild aus den frühen Berliner Jahren zeigt die beiden als wilhelminisches Bürgerpaar im Sonntagsstaat. Claire und Philipp Lambertz hatten keine Kinder. Als „typisches kinderloses Paar“ hat ein Verwandter sie in einer Familienbiographie beschrieben, „voller Hingebung für ihren aufmüpfigen Hund Spitz, dessen Herkunft ungeklärt war“.

Das neu gebaute Bayerische Viertel, in dem jüdische Anwälte, Ärzte, Geschäftsleute und Intellektuelle lebten, habe das Paar mit Bedacht gewählt, erzählt Brigitte Zwerger. „Dieses Ambiente entsprach ihren Vorstellungen in besonderer Weise.“

"Ordnungsstrafbescheid" für einen Toten und dessen Witwe.
"Ordnungsstrafbescheid" für einen Toten und dessen Witwe.

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Der Gang durchs Viertel auf der Suche nach dem Fenster führt vorbei an „Orten des Erinnerns“, an denen auf Schildern jeweils auf der einen Seite ein buntes, harmlos anmutendes Bild zu sehen ist und auf der anderen eine ausgrenzend-schikanöse Nazi-Verordnung. Hier: ein Brot. Dort: „Lebensmittel dürfen Juden in Berlin nur nachmittags von 4 bis 5 Uhr einkaufen. 4.7.1940“. Das Bayerische Viertel, damals als „Jüdische Schweiz“ bekannt, ist ein passender Ort, um zu gedenken, weil hier viele Juden lebten. Vor etlichen Häusern liegen heute Stolpersteine und an Laternenmasten markieren 80 Tafeln die „Orte des Erinnerns“.

Auf einem der Schilder ist ein Brief abgebildet. „Nun ist es soweit, morgen muß ich fort u. das trifft mich natürlich schwer. (…) Ich werde Dir schreiben…“, steht auf der Rückseite. Zusatz: „Vor der Deportation, 16.1.1942.“ Da war Claire Lambertz erst wenige Tage verschwunden.

Auf dem Weg zu Elly Reichs früherer Wohnung liegt das Pangea-Haus, eine Bildungs- und Begegnungsstätte der Arbeiterwohlfahrt. Vor dem Eingang erinnern Stolpersteine an ermordete Mitarbeiter der privaten jüdischen Klinik, die bis 1942 und zu ihrer „Arisierung“ im oberen Stockwerk untergebracht war. In dem Krankenhaus lag Philipp Lambertz bis zu seinem Tod. An seine von den Nazis ermordete Frau erinnert derzeit noch kein Stolperstein. Die Eheleute Lambertz hatten über eine Flucht nachgedacht. Palästina war ein mögliches Ziel. Doch Philipp Lambertz war 1933 bereits 68 Jahre alt, einen Neuanfang in dem Alter hielt er für illusorisch.

Ablehnung der Erbschaft in der Sprache des Unmenschen.
Ablehnung der Erbschaft in der Sprache des Unmenschen.

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In Berlin waren die Eheleute und nach Philipps Tod die Witwe den Nazi-Schikanen ausgeliefert. „Sie haben sich zum Bezuge von Bohnenkaffee bei einem Kleinverteiler angemeldet, obwohl Sie als Jude nicht bezugsberechtigt waren“, heißt es in einem „Ordnungsstrafbescheid“ des Ernährungsamts im Rathaus Schöneberg. „Ihr Verhalten stellt einen Verstoß gegen §2 Abs. 1 Ziff. 3 der Verbrauchsregelungs-Strafverordnung (VSB) vom 6. April 1940 (RGBl. 1 S. 610) dar.“ Eine „Ordnungsstrafe in Höhe von 100,- Reichsmark“ werde festgelegt. Aufgesetzt wurde das Schreiben im April 1941. Da war Philipp Lambertz bereits zwei Monate tot. Zahlen musste seine Witwe trotzdem.

Auch nach dem Mord an Claire Lambertz gingen die Schikanen gegen die Familie weiter. Als ihr Neffe Max Lambertz, der vor Claires Deportation noch vergeblich versucht hatte, seine Tante nach Hamburg zu holen, als Erbe laut Testament einen Antrag auf Freigabe ihres Besitzes stellte, erhielt er eine Antwort in der Sprache des Unmenschen beziehungsweise eines Regierungsrats beim Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg: „Ihrem Antrag, die beschlagnahmten Werte der evakuierten Jüdin Frau Clara Sara Lambertz freizugeben, kann ich nicht entsprechen. Wenn auch die mir vorliegenden Unterlagen als zu Recht bestehend anerkannt werden, ist jedoch ein Erbfall bisher nicht eingetreten und somit das Vermögen der Evakuierten dem Reich verfallen.“

Stübbenstraße im Bayerischen Viertel: Hier wohnten Claire und Philipp Lambertz und hier wurde das Foto mit Großnichte Julie Jeanette aufgenommen.
Stübbenstraße im Bayerischen Viertel: Hier wohnten Claire und Philipp Lambertz und hier wurde das Foto mit Großnichte Julie Jeanette aufgenommen.

© Markus Hesselmann

Davon etwas zurückzuerhalten, war auch nach dem Ende der Naziherrschaft nicht leicht. Es begann der Kampf um so genannte Wiedergutmachung, um so genannte Entschädigung. Das seien „schöne Worte für die Kompensation erlittenen Unrechts durch finanzielle Leistungen“, schreibt Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, im Vorwort zum Katalog der Ausstellung „Verfahren. ‚Wiedergutmachung' im geteilten Berlin“, die derzeit im Foyer des Landgerichts in der Littenstraße in Mitte gezeigt wird und exemplarische Fälle dokumentiert. „Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand hat in den vergangenen Jahrzehnten vielfach mit jenen Menschen zusammengearbeitet, die von ‚Entschädigungsverfahren' betroffen gewesen sind“, schreibt Tuchel weiter. „Oft sind uns Geschichten erzählt worden, die von langen Laufzeiten, erneut traumatisierenden Befragungen und Gutachtern sowie unzureichenden finanziellen Leistungen berichten.“

Ähnliche Erfahrungen machten auch die Angehörigen von Claire und Philipp Lambertz. Derart schleppend lief das Berliner Verfahren, dass der von Max Lambertz als Rechtsnachfolger des Ehepaares beauftragte Hamburger Anwalt zwischenzeitlich eine Dienstaufsichtsbeschwerde anstrengte. In einem selbstmitleidigen Schrieb verteidigt sich der zuständige Dienststellenleiter Ende der 50er Jahre: Man sei völlig überlastet, die Entscheidung eines weiteren Amtes, das Zweifel angemeldet habe, sei erst herbeigeführt worden, es lägen 80 000 Fälle zur Bearbeitung vor, man habe Fristen nur geringfügig überschritten. Und er macht geltend, dass ein Bescheid soeben und nachweislich vor Eingang der Dienstaufsichtsbeschwerde erfolgt sei.

Daraufhin wurden Max Lambertz 4600 D-Mark und ein Jahr später noch einmal 20 100 D-Mark zugesprochen. „Eine Lachnummer“ nennt Sylvia Runge dies. Allein das Barvermögen der Eheleute Lambertz habe sich vor dem Beginn der immer auch finanziellen Schikanen der Nazis – etwa die willkürliche „Judenvermögensabgabe“, die als „Sühneleistung“ erhoben wurde – auf 100 000 Reichsmark summiert. Doch das war, mit allem anderen Besitz, „dem Reich verfallen“. Die deutsche „Wiedergutmachungspolitik“, schreibt Gedenkstättenleiter Tuchel, „ist mit Sicherheit keine Erfolgsgeschichte“.

Die Unterlagen, die Max Lambertz in dem Verfahren nutzte, hatte Elly Reich ihm geschickt, Claire Lambertz’ Bekannte, die im Kiez am Nikolsburger Platz lebte. Hatte man sich auf ihrem Balkon getroffen und das Foto gemacht? Gegenüber der damaligen Wohnung von Elly Reich ist aber heute kein Fenster mit derart geschwungenem Rahmen zu sehen. Kein Beleg demnach, dass das Foto hier entstanden sein könnte.

Nun Richtung Bayerischer Platz, zum Gründerzeitbau, in dem Claire und Philipp Lambertz damals lebten. Dort gegenüber: das Fenster! Hier ist das Foto entstanden. Es ist nur ein Detail, aber die Erinnerung an Claire Lambertz ist nun um dieses Detail reicher.

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