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Auf dem Plan von 1903 ist die Bebauung am Viktoria-Luise-Platz bereits vollständig, am Bayerischen Platz noch nicht.

© Bezirk

„Gefühlter Kiez“ in Berlin: Wo ist eigentlich das Bayerische Viertel genau?

Wie die Grenzen des Bayerischen Viertels in Berlin verlaufen, ist nur auf den ersten Blick eine leichte Frage.

„Zwischen Rathaus Schöneberg und Kadewe“ schreibt Gudrun Blankenburg, die Fachfrau überhaupt, in ihrem Buch „Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg“. Im Buchtitel taucht ein weiteres Problem auf. Ein wenn auch kleinerer Teil des Viertels gehört zu Wilmersdorf. Die Bezirksgrenze verläuft entlang der Bamberger Straße. Und als das Bayerische Viertel entstand, stand das Kadewe in Charlottenburg, erst 1938 kam es durch eine Reform der Bezirksgrenzen zu  Schöneberg. Charlottenburg war in der Bebauung schneller, wie der Bebauungsplan von 1887 zeigt. Während an der Tauentzienstraße schon parzelliert ist, heißt es südlich davon „Feldmark Schöneberg“. Die Grenze bildete damals die heutige Geisbergstraße – und nur bis zur Geisbergstraße konnte Haberland parzellieren. Doch heute nimmt niemand mehr die Geisbergstraße als Grenze wahr, vor allen nicht des Bayerischen Viertels.

„Überall da, wo die Straßen bayerische Namen“ haben, lautet eine andere, häufige Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage. Tatsächlich heißen viele, nicht alle Straßen nach bayerischen Städten. Salomon und Georg Haberland hatte 1897 angefangen, mit Unterstützung der Stadt Schöneberg, die Richtung Wilmersdorf gelegenen Felder zu parzellieren. Haberland senior wählte bayerische Städte für das Viertel, weil er ein Freund der Bayern war, wie Blankenburg schreibt.  Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ein Blick in ein Straßennamenlexikon zeigt: Die Idee mit Bayern hatte Jahre zuvor die noch eigenständige Stadt Charlottenburg. Augsburger, Ansbacher und Bayreuther Straße sind bereits 1887 benannt. Wahrscheinlich ist also, dass Haberland die Idee einfach übernahm. Teilweise wurden die Charlottenburger Straßen nach Süden verlängert, die Bayreuther Straße reichte früher zum Beispiel bis zum Viktoria-Luise-Platz.

Ein großzügiges, großbürgerliches  Viertel entwarfen die Haberlands, mit schönen Plätzen und Vorgärten. Die Haberlands verdienten viel Geld mit der Idee, heute würden viele sie wohl Spekulanten nennen. Doch sie schufen eines der beliebtesten Viertel der Stadt, die Promidichte war und ist hoch, der Wohlfühlfaktor ebenso. Das zweite bayerische Viertel in Berlin kennt kaum jemand, es liegt in Lichtenrade. Es wurde vom Bezirk Tempelhof nach bayerischen Städten benannt, es hätten auch Vögel oder Bäume Pate stehen können für die Straßennamen. Und es geht noch fantasielosern. Es gibt tatsächlich ein Mineralien-Viertel in Berlin mit Quarzweg, Glimmerweg, Asbestweg und Feldspatweg.

Zurück nach Schöneberg. Wieso heißen nun ausgerechnet am Bayerischen Platz viele Straßen nach österreichischen oder italienischen Städten? Innsbruck, Meran, Salzburg? Das ist einfach, sie gehörten in grauer Vorzeit mal zum "Königreich Bayern", dank Napoleon. Schwieriger wird es mit der Speyerer Straße, die früher mal bis zum Bayerischen Platz führte. Zwar gehörte Speyer auch mal zu Bayern, Herbert Mayer, Autor des „Wegweiser zu Berlins Strassennamen“ nennt allerdings die Reformation als Grund für die Benennung. Tatsächlich mündet sie in die Martin-Luther-Straße. Nach dem Reformator sind zahlreiche Straßen in der Umgebung benannt, auch wenn das heute nicht so auffällt: Eisleben, Marburg, Eisenach und Worms waren wichtigen Stationen Luthers.

Wikipedia nennt für das Bayerische Viertel diese Grenzen: Tauentzienstraße im Norden, Wexstraße im Süden, Bundesallee im Westen und Martin-Luther-Straße im Osten.  Letzteres ist definitiv falsch. Dies zeigen schon die bayerischen Straßennamen aus Haberlands Jahren, die bis zur Eisenacher Straße reichen. Kundiges Auge erkennt die Handschrift Haberlands an den kleinen Schmuckplätzen mit dem Baumsolitär, die es zum Beispiel an der Stübbenstraße, aber eben auch östlich der Martin-Luther-Straße gibt, so an beiden Enden der Starnberger Straße.  Gudrun Blankenburg nennt als östliche Grenze die Karl-Schrader-Straße mit dem repräsentativen Pestalozzi-Fröbel-Haus. Die Wexstraße – schon an Stadtautobahn und Ringbahn gelegen – nennen Bewohner des Bayerischen Viertels ganz sicher nicht als Grenze des Viertels. Bis zur Ringbahn reichte 1899 der Schöneberger Bebauungsplan. Mit Haberland hat das wenig zu tun.  

Dieser Bebauungs-Plan von 1887 aus Charlottenburg nennt mehrere bayerische Straßennamen. An der heutigen Geisbergstraße beginnt die "Feldmark Schöneberg".
Dieser Bebauungs-Plan von 1887 aus Charlottenburg nennt mehrere bayerische Straßennamen. An der heutigen Geisbergstraße beginnt die "Feldmark Schöneberg".

© Bezirksamt Schöneberg / Vermessungsamt

„Eine katastermäßig festgelegte Begrenzung des Bayerischen Viertels existiert nicht“, schreibt Gudrun Blankenburg, es ist also vor allem ein „gefühlter Kiez“. Vielen gilt zum Beispiel der Prager Platz – am Ende der Aschaffenburger Straße – als integraler Bestandteil des Viertels. Dabei gehört der Prager Platz mit seinem Pendant Nikolsburger Platz, der geschwungenen Schaperstraße sowie Fasanenplatz und Nürnberger Platz zu einer anderen stadtplanerischen Idee, der "Carstenn-Figur". Johann Anton Wilhelm von Carstenn hat diesen Teil von Wilmersdorf parzelliert, er war Kaufmann und Landentwickler wie Salomon Haberland und dessen Sohn Georg.

Noch zu Lebzeiten wurde nach dem 1914 gestorbenen Salomon Haberland eine Straße benannt. Das Straßennamenlexikon „Luise Berlin“ datiert dies auf November 1906. Die Nationalsozialisten tilgten diese Erinnerung 1938. Haberland war Jude, wie viele hier. Das Viertel hieß nicht umsonst „Jüdische Schweiz“. Die Y-förmige Haberlandstraße erhielt die Namen weiterer bayerischer Städte, Treuchtlingen und Nördlingen. Erst 1996 raffte sich das Bezirksamt auf und benannte die Nördlinger Straße zurück nach Haberland. Seit 2014 trägt auch das Café im Neubau des U-Bahnhofs Bayerischer Platz den Namen Haberlands. Zuvor hatte die BVG den grausigen Nachkriegsklotz auf dem Bayerischen Platz beseitigt. So schön wie die anderen Bahnhöfe der „Schöneberger Linie“ U4 wird er aber nie wieder. Die – auch durch die Tätigkeit Haberlands – so wohlhabend gewordene eigenständige Stadt Schöneberg leistete sich 1910 eine ebenso prunkvolle wie kurze Untergrundbahn,  vor allem die Stationen Viktoria-Luise-Platz und Rathaus Schöneberg sind sehenswert.

Die beiden anderen Stationen der Linie, Innsbrucker Platz und Bayerischer Platz wurden nicht durch den Krieg, sondern den in den 50ern einsetzenden Autowahn ruiniert. Bomben hatten weite Teile des Bayerischen Viertels zerstört. Die Planer der Nachkriegszeit fügten dem Viertel weitere schlimme Zerstörungen zu, Stichwort Autogerechte Stadt. Straßen verschwanden, neue breite Schneisen wurden geschlagen. Die Wormser Straße begrenzt heute mit drei Hausnummern einen Parkplatz, die Achenbachstraße verschwand spurlos in der Lietzenburger Straße. Und weil diese damals Südtangente genannte Achse so überdimensioniert war, mussten viele querende Straßen neu benannt werden.

Mit den Fuggern und den Welsern zogen Ende der 50er weitere nichtbayerische Namen ins alte Bayerische Viertel ein, sie ersetzten die abgehängten Abschnitte der Augsburger und Bayreuther Straße. Am Bayerischen Platz verschwand eine der sechs von Haberland projektierten "Strahlen", nämlich die Speyerer Straße. Sie wurde mit 50er-Jahre-Blöcken bebaut, übrig blieb ein sinnloser Stummel an der Martin-Luther-Straße. Die uralte Grunewaldstraße, die Verbindung vom Dorf Schöneberg in den Grunewald wurde mitten über den Bayerischen Platz geschlagen, hat diesen irreparabel zerstört. Autos, so dachte man in den 50ern, dürften nicht durch den Bogen um die Grünanlage gebremst werden.

Zum Glück blieb der Viktoria-Luise-Platz intakt, der in dem Bezirks-Buch „Orte des Erinnerns“ als "Tor zum Bayerischen Viertel“ bezeichnet wird. Die in den 50ern verhunzte Grünanlage wurde Ende der 70er wieder in den historischen Zustand von 1900 zurückverwandelt. 1994 wurden die Straßen rund um den Platz für den Durchgangsverkehr gesperrt, seitdem sagen viele: Das ist neben dem Gendarmenmarkt der schönste Platz Berlins. Danke, Georg und Salomon Haberland

Ergänzungen und Korrekturen bitte an hasselmann@tagesspiegel.de

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