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Frage nach dem Zuhause. Dmitrij Belkin kam als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland.

© Kitty Kleist-Heinrich

Spaziergang im Bayerischen Viertel : Etwas mehr Kiez, etwas weniger Museum

Geboren in der UdSSR, angekommen im Bayerischen Viertel: Ein Spaziergang mit dem Autor und Kurator Dmitrij Belkin, ein Gespräch über Heimat, Erinnerung, Migration.

Von Markus Hesselmann

Treffpunkt bei Franz Hessel. „Heimat ist Geheimnis, nicht Geschrei“, steht auf einer Erinnerungstafel an der Fassade des Hauses Lindauer Straße 8, in dem der Schriftsteller und Berlin-Flaneur einst wohnte. Gründerzeitbauten, grün-bunte Vorgärten, Bäume auf Mittelinseln – dieses Innenstadtbiotop in Schöneberg strahlt Gelassenheit aus, wird aber autoumtost von der Martin-Luther- und Hohenstaufenstraße her. „Ein Geheimnis sollte Heimat nicht mehr sein, aber auch kein Geschrei“, sagt Dmitrij Belkin, ein wenig außer Atem, die Brille leicht beschlagen vom Gang quer durch den Kiez, denn er lebt am anderen Ende des Bayerischen Viertels, in dem Teil, der schon zu Wilmersdorf gehört und bis zur Bundesallee reicht. Belkin gehört zu denen, das wird hier gleich klar, die nicht wollen, dass der Begriff „Heimat“ von rechts monopolisiert wird.

„Heimat, Vielfalt, Migration, Religion, Familie“ ist der Untertitel der von Dmitrij Belkin kuratierten Ausstellung „Babel 21“, die sich mit Lebensentwürfen junger, größtenteils jüdischer Einwanderer befasst. Ein „Judentum 2.0“, wie Dmitrij Belkin es nennt, ein Judentum, das sich nicht mehr vor allem durch den Holocaust definiert, als Opfer von Mord und Verfolgung. Gerade lief die Ausstellung im Centrum Judaicum in Berlin, bald geht sie auf Deutschland-Tour. In seinem Buch „Germanija: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde“ fällt das Wort „Heimat“ drei Dutzend Mal. Einmal schreibt Belkin, der 1993 als sogenannter Kontingentflüchtling aus der Ukraine in die Bundesrepublik kam, von seinen beiden „Heimaten“, der UdSSR und Deutschland: das Land, in dem er aufgewachsen ist und das Land, dessen Kultur ihn interessierte, das ihn aufnahm, wegen seiner jüdischen Herkunft. Reutlingen, Tübingen, Frankfurt am Main, Berlin sind Stationen seines deutschen Lebens. Seine Heimatstadt ist Dnjepropetrowsk, wo er 1971 zur Welt kam.

"Mir könnte es genauso gehen"

Franz Hessel, geboren 1880 in Stettin, Berliner seit 1888, gestorben 1941 an den Folgen seiner Lagerhaft in Südfrankreich, hat den Satz von der Erinnerungstafel gesagt, als er einen Nazitrupp durch die Straßen Berlins marschieren sah. Er selbst konnte sich nicht trennen von seiner Heimatstadt, erst kurz vor dem Pogrom des 9. November 1938 entschloss er sich zur Flucht nach Frankreich. „Mir könnte es genauso gehen“, sagt Dmitrij Belkin. „Dies ist der schönste Ort, an dem ich bislang gelebt habe.“ Er meint das Bayerische Viertel. Der Bezug zum Lokalen ist auffällig auch bei den Menschen, die er für seine Ausstellung interviewt hat. Berlin wird als Heimat genannt oder ein Berliner Bezirk.

Der Spaziergang durchs Bayerische Viertel, einst Quartier des jüdischen Bürgertums, genannt „Jüdische Schweiz“, führt an Stolpersteinen und Gedenktafeln vorbei und hindurch unter den Schildern der „Orte des Erinnerns“. Ein buntes Bild – ein Brot, eine Parkbank, eine Uhr – wird bei diesem dezentralen Mahnmal jeweils einer Anordnung der Nazis gegenübergestellt, die Juden aufzwingt, was sie zu essen, wo sie zu sitzen und wann sie dies oder jenes zu tun oder zu lassen haben.

Mit Blick auf so viel Erinnerung sagt Dmitrij Belkin, fühle er sich „eher indirekt verantwortlich für das Aufbewahren der jüdischen Vergangenheit des Bayerischen Viertels“. Er kenne sie, argumentiere mit ihr, in ihr aufgehen möchte er nicht. „Ich werde ohnehin zu Genüge ohne meinen Willen mit dieser Vergangenheit identifiziert.“ Etwa wenn wohlmeinende Nachbarn ihn ansprechen: „Kennen Sie das Haus sowieso? Dort haben wir vor drei Jahren vier schöne Stolpersteine eingeweiht.“

Zugleich respektiert er die Bemühungen der Menschen, etwa wenn sie zum 9. November jetzt wieder Lichter an Stolpersteinen aufgestellt und Blumen niedergelegt haben. „Mein Eindruck ist, dass sie es ehrlich meinen.“ Und das zählt. „Das Bayerische Viertel braucht aber eine leichte Entmusealisierung. Das sage ich gern auch als politisch denkender Kulturschaffender und Museumsmann.“ Und wo bleibt da „Gegen das Vergessen“, einer der bundesrepublikanischen Grundsätze mit Blick auf die Nazi-Verbrechen? „Das heutige Leben und ein bewusstes Stehen zum Geschehen werden helfen, die Vergangenheit nicht zu vergessen. Davon bin ich überzeugt.“

"Dieses Nicht-mehr-Rennen-müssen"

Seine lokale Mission, er nennt es „nachbarschaftlichen Habitus“, sieht er eher „in der regelmäßigen Kommunikation mit den 70- bis 75-jährigen Omas – es sind meistens die Frauen –, die mit ihren vierbeinigen Lieblingen unterwegs sind und gern erzählen“. Der Kiez in den Siebziger-, Achtzigerjahren wird dann zum Thema. „Meine Frau und ich hören zu, fragen nach.“ Ein Alltagsheld seines Germanija-Buches ist Peter, Inbegriff des entspannt Bodenständigen in der Straße, in der die Belkins leben. Vierzig Jahre lang Taxifahrer und damit Berlin-Experte, jetzt Hauswart in der großbürgerlichen Nachbarschaft. „Seine Gelassenheit, so stelle ich mir das vor, kommt von diesem Nicht-mehr-rennen-müssen, ein Stadium, in dem wir Migranten immer noch nicht angekommen sind.“ Peter musste nirgends ankommen, er war einfach immer schon da. Egal wie eilig er selbst es hat, sagt Dmitrij Belkin, ein Smalltalk, ein Handshake mit Peter müssten immer sein. Eine Trennung in „die Deutschen“ und „wir Juden in Deutschland, wir deutschen Juden“ mag Dmitrij Belkin nicht.

Vom „geliebten, weil echten, Bayerischen Viertel“ spricht er. Das „nicht-nationale, kultiviert Bodenständige“ zeichne es aus. Da ist es wieder, das Wort „bodenständig“, das beim Spaziergang einige Male fällt. Begriffe wie „zeitlos“, „altdeutsch“, „liberal“, aber auch „absurd“ fallen ihm ebenfalls ein, wenn er sich umschaut in diesem Kiez. Die „Postkriegshässlichkeiten“, wie er die Fünfzigerjahrebauten nennt, die im kriegszerstörten Viertel hochgezogen wurden, gehören dazu. Diese Mischung sei das echte Berlin, ohne Hipster, sagt Dmitrij Belkin, oder besser noch: „Wahrlich hip ist das, für wenige. Ich hoffe, so bleibt's.“

In unserer Reihe "Eine Runde Berlin - Streifzüge durch die Kieze" bereits erschienen: Mit Autorin Jana Hensel in Prenzlauer Berg und am Fernsehturm. Mit Sängerin Inga Humpe am Spree-Ufer in Mitte. Mit Weltenbummlerin Heidi Hetzer im Opern-Viertel. Mit DJ Alfred Heinrichs durch Lichtenberg. Mit Lüül durch Eichkamp in Westend. Mit dem Hauptmann-Darsteller Jürgen Hilbrecht durch Köpenick. Mit Sängerin Elif durch Moabit. Mit Autorin Emilia Smechowski durch Kreuzberg. Mit dem Botschafter des Vatikans an der Hasenheide entlang. Mit dem SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrinck durch das südliche Neukölln. Mit Berlinale-Chef Dieter Kosslick zwischen Hansaviertel und Moabit. Mit Prenzlschwäbin Bärbel Stolz durch, na klar, Prenzlauer Berg.

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