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Blick in die dunkle Vergangenheit. Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ ist in der restaurierten Ausstellungshalle des Rathauses Schöneberg wiedereröffnet.

© Thilo Rückeis

Ausstellung über Nazi-Opfer wiedereröffnet: Als die Nachbarn deportiert wurden

Aus der Kiez-Schau „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg ist in zehn Jahren ein erfolgreiches Bürgerprojekt zur Erkundung der NS-Vergangenheit geworden. Jetzt wurde sie wiedereröffnet.

„Wir waren Nachbarn“ ist eine Dokumentation der NS-Geschichte im Kiez und Berlins erfolgreichstes Bürgerprojekt zur Vergangenheitserkundung „von unten“. Nun wurde die Ausstellung im restaurierten Saal des Schöneberger Rathauses wiedereröffnet. Wer künftig zu dieser ungewöhnlichen Ausstellung gelangen möchte, die zehn Jahre nach ihrer Premiere am Sonntag zum achten Mal eröffnet wird, der geht durchs Schöneberger Rathausfoyer und einen Gang entlang. In diesem Korridor sitzen Ausländer, die keine mehr sein wollen. „Einbürgerung Wartenummern“ liest man an der Wand. Hinter der nächsten Ecke öffnet sich die Tür zu einem großen hellen Saal mit Glasdach, der vor 101 Jahren, als das Rathaus fertig war, zuerst als Versammlungshalle diente.

„Wir waren Nachbarn“ heißt die Präsentation, in deren Zentrum 152 Alben stehen, jeweils 125 werden ausgelegt. Sie sind etwas größer als Din A 3, mit einer Holzleiste festgeschraubt an grauen Lesepulten. Ihre laminierten Seiten enthalten private Fotos, biografische Texte, amtliche Dokumente, Briefe – von Schönebergern und Tempelhofern, zwischen 1933 und 1945 ausgebürgert, vertrieben oder deportiert, weil sie Juden waren oder so bezeichnet wurden. Das erste Album handelt von Doris Kaplan, geboren 1931, aus der Luitpoldstraße.

Biografien bieten Zugang zur NS- und Weltkriegsgeschichte

Die Geschichte des Mädchens, das fröhlich und sehnsüchtig an seine Mutter in Guben schreibt, mit der zusammen Doris schließlich verschleppt und vermutlich umgebracht wird, lässt keinen Besucher kalt. Der Text kommentiert eingangs noch mit allwissendem Erzähler-Pathos hoffnungsvolle Briefpassagen, vorausblickend auf das schreckliche Ende der Familie. Solche emotionale Zudringlichkeit ist unnötig. Bei Doris Kaplan wirkt es schon aufwühlend, in der beigefügten Inventarliste, über die das Eigentum Deportierter irgendwann zu den Schnäppchen-Nachbarn gelangen könnte, auf die Posten „1 Kinderbett“ und „1 Ziehharmonika“ zu stoßen.

Ein anderes Album präsentiert die Geschichte des „Halbjuden“ Helmut Krüger aus der Münchner Straße im Bayerischen Viertel, der in Uniform schneidig aussieht, ein paar Jahre lang als Wehrmachtssoldat überlebt hat und bei der Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz dachte, jetzt sei seine Mutter „für alle Zeit gerettet“. Später wird er sich fragen: „Wer wäre ich wohl heute, wenn ich keine jüdische Mutter gehabt hätte? Ein SS-Mann mit verdrängter Vergangenheit ...“ Die Biografien ziehen den Besucher hinein in ein Monster-Jahrhundert: der Vertriebenen, der Untergetauchten, der Ermordeten. Zwischen Anpassung und Illusion, Angst und Suizid, Rettung, Verrat, Flucht- und Exilstationen, Abschied und ausweglosen Sackgassen.

Sie waren Nachbarn. Dokumente im Rathaus Schöneberg erinnern an von den Nazis deportierte und ermordete Berliner.
Sie waren Nachbarn. Dokumente im Rathaus Schöneberg erinnern an von den Nazis deportierte und ermordete Berliner.

© Thilo Rückeis

Ungewöhnlich an dieser Ausstellung ist, dass sie sich – bis auf einen Monitor, der Zusatzinfos bietet – auf analoge Medien beschränkt. Links und rechts der Lesepulte mit Leselampen sind auf den Wänden 6223 Karteikarten angebracht, die ein helfender Beamter aus Finanzamt-Akten handschriftlich kopiert hat: Name, Geburtsdatum, Adresse, ggf. Obermieter, Abtransporttermin und Zielort aller deportierten Schöneberger und Tempelhofer. Außerdem sind an einigen Pulten Originalstimmen über Kopfhörer abzuspielen. In Schubladen eines grauen Sekretärs mit „Erinnerungssplittern“ darf gestöbert werden. Ungewöhnlich ist, dass diese altmodische Schau niemanden mit Riesenfotos überwältigt, sondern zur intimen Lektüre einlädt, ergänzt durch relativ kleine Bilder – Durchschnittsbesuch: eine Stunde. Dass sie Prominente nicht werbeträchtig heraushebt, sondern jedes Einzelschicksal würdigt. Dass sich hier nicht Quote (ca. 12.000 Besucher jährlich), sondern Qualität durchgesetzt hat: weil die Ausstellung zum Treffpunkt von Emigranten und deren Nachkommen, die Berlin besuchen, und der Berliner von heute geworden ist.

"Grabe, wo du stehst"

„Wir waren Nachbarn“ ist nicht vom Himmel gefallen. Zum Vorspiel des Projektes gehört, dass 1983, als der Termin „50 Jahre nach 1933“ lokalhistorische Forschungen inspirierte, mit dem Motto „Grabe, wo du stehst“ Geschichtswerkstätten entstanden und im Haus am Kleistpark unter der neuen Kunstamtsleiterin Katharina Kaiser eine Ausstellung zum Leben in Schöneberg und Friedenau während des „Dritten Reiches“ gezeigt wurde. 1987 erschien dazu ein Buch für Berlins 750-Jahr-Feier. 1993 wurde im Bayerischen Viertel die 80-teilige Installation „Orte des Erinnerns“ zum rassistischen Ausgrenzungsalltag eingeweiht. 1995 gab es nach Treffen mit 50 Zeitzeugen eine Schöneberger Ausstellung „Formen des Erinnerns“ mit Aufzeichnungs-Alben. 1999/2000 folgten Open-air-Ausstellungen mit „Erinnerungssplittern“ auf dem Bayerischen Platz und ein Film über „geteilte Erinnerungen“ der Verfolgten und der Anderen.

2005 bis 2009 schließlich fand „Wir waren Nachbarn“ im großen Saal des Rathauses statt, mit zunächst 92 Alben: jedes Jahr drei Monate lang. Die ganzjährige Präsentation haben Politiker, Historiker und Aktivisten um Katharina Kaiser 2010 – nicht zuletzt aufgrund der Resonanz bei Emigranten-Familien – durchgekämpft. Doch im Jahr darauf brach das Glasdach unter Schneelasten ein. Die Ausstellung musste in einen Raum mit niedriger Decke neben der Pförtnerloge umziehen.

2013 ermöglichten Fördermittel aus dem Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ die Audio-Ergänzung mit Hörstücken authentischer Stimmen. Inzwischen symbolisiert „Wir waren Nachbarn“ für Berlin den Trend zur dezentralen „Erinnerungslandschaft“, ähnlich wie das „Stolpersteinprojekt“ – ein zivilgesellschaftliches Gegenstück zur Gedenkkultur von oben.

Statt Opferfixierung gibt es heute dezentrale Erinnerung

Nach den Verdrängungen der Wirtschaftswunderjahre, der Fixierung auf ferne Opferfiguren wie Anne Frank und der politisierten 68er-Abrechnung mit der Tätergeneration ist hier die Erkundung der Vergangenheit aufs eigene soziale Umfeld ausgerichtet, auf Basisrecherche vor Ort. Passend dazu wurde dann im vergangenen Jahr im neuen Café Haberland auf dem umgebauten U-Bahnhof Bayerischer Platz eine digitale audiovisuelle Schau zur jüdisch geprägten Historie des Kiezes aufgelegt.

Für Katharina Kaiser, die als Oberschlesien-Flüchtling in Bayern aufwuchs und Kunstgeschichte mit Germanistik studierte, ist das Projekt ein Lebenswerk. Sie weiß noch genau, wie in den 1980er Jahren nach „authentischen Orten“ der NS-Verbrechen gesucht wurde, zum Beispiel: Gefängnisse. Mit der Entdeckung des Bayerischen Viertels als authentischer (Tat-)Ort fing es an. „Erinnerung kann man nicht von Amts wegen machen“: Das war damals, als noch niemand von „öffentlichem Bewusstsein“ sprach, eine wichtige Erkenntnis.

Eine neue Generation, ein neuer Konsens

Mittlerweile sei auf jene Bezirkspolitiker, die für die Ausstellung weitab im Tempelhofer Hafen Räume anmieten wollten, eine neue Generation gefolgt: Heute bestehe Konsens darüber, dass sich mit der zentralen Ortswahl eine starke Aussage verbindet.

2011 ging Katharina Kaiser in Pension, 2013 ist sie ehrenamtlich bei „Wir waren Nachbarn“ eingestiegen. Zwölf Honorarkräfte und drei Ehrenamtliche machen mit, 50 Autoren haben an den Alben geschrieben. Sie selbst erzählt auf die Frage, warum gerade dieses Thema das ihre wurde, eine oberschlesische Nachbarschaftsgeschichte: Ihr Vater sei zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Soldat der polnischen Armee gewesen, desertiert und von polnischen Juden versteckt worden. Das habe sie als Kind gehört und zunächst viele Jahre lang vergessen.

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