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Valerie Schönian, Autorin vom Buch „Ostbewusstsein".

© Kitty Kleist-Heinrich

Bewusstsein statt Gejammer: Valerie Schönian fragt in ihrem Buch nach ostdeutschen Identitäten

Valerie Schönian ist 30 – wie die deutsche Einheit. Am Montag stellt sie ihr Buch „Ostbewusstsein“ im Pfefferberg-Theater vor.

Als Pegida 2014 beginnt, in Dresden zu marschieren, geht Valerie Schönian auf eine Gegendemo in München. Gerade erst ist sie nach Bayern gezogen. Unter den Menschen auf Dresdens Straßen sieht sie vor allem Wütende. Für andere, die mit ihr demonstrierten, scheinen es in erster Linie Ostdeutsche zu sein. Genauer gesagt: ostdeutsche „Jammerlappen“, wie eine Freundin ihr sagt.

Die Kombination der Begriffe „Ossi“ und „jammern“ begegnete der Journalistin, die aus Magdeburg stammt, nicht nur an jenem Tag. Als die AfD 2016 bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 24,2 Prozent der Zweitstimmen bekommt, kommentiert ein älterer Westdeutscher das Ergebnis mit dem Wort „Ossi-Gejammer“. Wenn sie einen Moment benennen müsste, der sie „zum Ossi gemacht hat“, wäre es dieser, schreibt Valerie Schönian in ihrem Buch „Ostbewusstsein“, das im März erschienen ist. Die damals wegen Corona ausgefallene Premierenlesung wird an diesem Montag im Berliner Pfefferberg- Theater nachgeholt.

In dem Buch beschreibt Schönian, die für das Leipziger Büro der „Zeit“ arbeitet, die Entwicklung ihres eigenen „Ostbewusstseins“, reist durch Deutschland und trifft andere Ostdeutsche. Dabei greift sie potenziellen Einwänden vor: Muss das sein? Ein Buch über den Osten – und noch dazu von einer jungen Frau, die die DDR gar nicht mehr erlebt hat?

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Fragen, die sich die 30-Jährige gestellt hat. Der Schreibprozess sei von Zweifeln begleitet gewesen, erzählt Schönian bei einem morgendlichen Kaffee in Moabit, wo sie seit vielen Jahren lebt.

Die Journalistin hat die Erfahrung gemacht, dass vor allem ältere Menschen das Sprechen über Ost und West als etwas Trennendes empfinden. Sie selbst hat jedoch nicht das Ziel, Unterschiede zu zementieren. Im Gegenteil. Um sie zu überwinden, müssen sie erst einmal benannt und anerkannt werden, sagt die Autorin. „Wenn ich von Identität spreche, geht es nicht um meinen eigenen Bauchnabel. Es geht um Machtfragen“, sagt sie.

Dass bis heute Ungleichheiten existieren, ist kein Geheimnis. Die Autorin führt einige Zahlen an. Beispielsweise liegen von den 40 steuerstärksten Kommunen 39 in Westdeutschland.

Ihre Eltern muss sie zum Interview erst überreden

Die Perspektive von Nachwendekindern wie Valerie Schönian ist aus verschiedenen Gründen interessant – unter anderem, weil ihnen die ostdeutsche Identität nicht zwangsläufig in die Wiege gelegt ist. Ihre eigenen Eltern muss Valerie Schönian zum Interview für ihr Buch erst überreden. Der Vater fragt: „Was hast du denn mit dem Osten zu tun?“

Wie andere ihrer Generation muss sich die Journalistin ihre Herkunft erobern. Zu der Zeit, in der sie aufgewachsen ist, sind viele typische DDR-Kinderbücher oder -Filme kein Mainstream mehr. Das ist ein Unterschied zur Generation vor ihr, zu der auch die 1976 geborene Jana Hensel gehört. In „Ostbewusstsein“ beschreibt Valerie Schönian, wie sie mit der Autorin einen Abend in einer Bar in Prenzlauer Berg verbringt, viel Bier trinkt und lange diskutiert.

Die Generation von Journalistinnen wie Jana Hensel oder Sabine Rennefanz erlebte das Ostdeutsch-Sein noch als Makel. „Wir haben ein anderes Selbstbewusstsein. Ich hatte nie das Gefühl, etwas verstecken zu müssen“, sagt Schönian. Sie ist nicht die einzige Vertreterin ihrer Generation, die sich mit ostdeutscher Identität beschäftigt. Der 1989 geborene Journalist Johannes Nichelmann hat im vergangenen Jahr das Buch „Nachwendekinder“ veröffentlicht. Auch er begibt sich auf eine Reise zu den eigenen Wurzeln. „Es ist interessant, dass wir uns relativ gleichzeitig zu Wort melden“, sagt Schönian. Wenn es nach ihr ginge, würde es noch eine viel größere Vielfalt junger Stimmen aus dem Osten geben.

Valerie Schönian im Café Arema in Moabit, sie lebt seit Jahren im Kiez.
Valerie Schönian im Café Arema in Moabit, sie lebt seit Jahren im Kiez.

© Kitty Kleist-Heinrich

[Restkarten gibt es unter pfefferberg-theater.de oder Telefon 93 93 58 55]

Ein weiterer Unterschied zu früheren Generationen mag sein, dass die Nachwendekinder politisch unbelasteter erscheinen. „Natürlich wollen wir die DDR nicht zurück“, sagt Valerie Schönian. Die Jüngeren können einen differenzierten, kritischen und pragmatischen Blick auf die Vergangenheit werfen. Für Schönian ist Ostdeutschland nicht gleichzusetzen mit einem untergegangenen Staat. „Der Osten hat nie aufgehört zu existieren – auch nach dem Ende der DDR“, betont die Autorin.

Ihre Reise führt sie unter anderem nach Chemnitz, Görlitz, Halle, Magdeburg und auch nach Berlin, wo sie den 1992 in Mecklenburg-Vorpommern geborenen CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor trifft. In Ostdeutschland aufgewachsen zu sein, sei Teil seiner Identität, erzählt er. Ein ostdeutsches „Wir“ der Nachwendegeneration zu formen, hält er jedoch nicht für notwendig.

Vertreter der AfD wollte sie nicht treffen

Nicht immer ist Valerie Schönian mit ihren Gesprächspartnern einer Meinung. Den in Görlitz lebenden Autor Lukas Rietzschel („Mit der Faust in die Welt schlagen“) stört es etwa nicht, wenn die Vorzüge des Ostens in anderen Teilen Deutschlands ignoriert werden. Denn auf diese Weise blieben die Freiräume erhalten, sagt er. So unterschiedlich Schönians Interviewpartner sein mögen: Vertreter der AfD wollte sie nicht treffen, obwohl sie lange darüber nachgedacht hat.

Schließlich erzähle sie aus einer subjektiven Perspektive. „Mein Blick auf den Osten ist durch mein Aufwachsen geprägt, ich kenne auch einen offenen, progressiven Osten“, sagt sie. So spricht sie zwar Gründe rassistischer Tendenzen an, verfolgt aber nicht den Anspruch einer umfassenden Erklärung. Ihr Ziel sei, dem vorherrschenden Bild ein „Auch“ hinzuzufügen – ohne zu beschönigen.

[Pfefferberg-Theater, Schönhauser Allee 176, Montag, 7. September um 20 Uhr.]

Ihr Buch ist eine liebevolle Annäherung, aber keine Werbebroschüre. Sie trifft auch Menschen, die von Rassismuserfahrungen berichten – wie Konrad Erben, der 1990 in Jena geboren wurde und in Thüringen den Landesverband des Vereins Initiative Schwarzer Menschen mitgegründet hat. Sein Vater stammt aus dem Senegal. „Ich war das eine Schwarze Kind im Stadtteil, das alle kannten“, erzählt Erben im Buch. Er wurde auf dem Nachhauseweg von der Schule von Nazis angehalten, bespuckt und mit Bier überschüttet. Trotzdem ist Erben in Jena geblieben. Ostdeutsch zu sein ist Teil seiner Identität. „Konrad ist, samt seinen Rassismuserfahrungen, ein ostdeutsches Nachwendekind, das Jägerschnitzel und Platten liebt“, schreibt Valerie Schönian.

Vergangene Woche war die Autorin für eine kleine Vor-Premierenlesung in Görlitz. Es sei interessant gewesen, dass in dem relativ jungen Publikum niemand die Frage gestellt habe, was für eine Rolle das Ost-West-Thema noch spiele. „Das hat für mich meine These bestätigt, dass sich über die Generationen hinweg etwas ändert“, sagt Schönian.

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