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Bernhard Ziermann (1933-2018) beim Verglasen der Uhr des Roten Rathaus'

© Privat

Bernhard Ziermann (Geb. 1933): Grundsätzlich aber ist er gut, der Mensch

Seine Frau wurde ermordet, sein Sohn starb viel zu früh. Krankheiten bestimmten sein Leben. So hart die Prüfungen waren, er begehrte nie auf, nicht gegen den Staat, nicht gegen Gott. Die Geschichte eines neuen Hiob.

Von David Ensikat

Von Hiob heißt es in der Bibel, er sei ein reicher Mann gewesen, glücklich mit Frau, zehn Kindern und so treu seinem Gott ergeben, dass der es auf eine Wette mit dem Teufel ankommen ließ: Dieser hier wird nicht vom Glauben abfallen, auch wenn du ihm alles nimmst.

Fragen wir nicht danach, was für ein Gott derlei Beweise nötig hat. Fragen wir, wie ein Mensch die schlimmsten Prüfungen überstehen kann. Hiob verlor seine Kinder und den Reichtum, er wurde schwer krank, doch seine Frau behielt er, und die sagte: „Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb!“ Hiob antwortete: „Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Er blieb ein frommer Mann, der an der Allmacht und Güte seines Herrn nie zweifelte.

Bernhard Ziermann war ebenfalls ein frommer Mann, ein Katholik, der mindestens so sehr an den Heiligen Geist und den Sohn glaubte wie an Gottvater. Sollte er recht gehabt haben in seinem Glauben, sollte es also diese drei im Himmel geben, so hat es ihnen gefallen, die 2500 Jahre alte Hiobsgeschichte zu erneuern.

Er wollte nie in den Westen

In Bernhard Ziermanns Leben überwog zunächst das Glück. Er war ein Frühchen, es war nicht ausgemacht, dass er überleben würde. Er tat es und wuchs auf in einer Familie, die solches Glück als Gottesbeweis begriff. Gebetet wurde regelmäßig, je schlimmer die Dinge im Krieg standen, desto mehr. Seine Mutter, so erzählte Bernhard Ziermann später, habe im April 1945 eine Novene gebetet, ein Neuntagegebet, und siehe da, am neunten Tag war der Krieg vorbei. Auch dass die Bomben in die Nachbarhäuser fielen und das Haus der Ziermanns in der Gleimstraße, Prenzlauer Berg, verschonten, das konnte doch kein Zufall sein.

Bernhard war nicht von bester Gesundheit, auf eine frühe Masernerkrankung folgte eine Lungenentzündung, die chronisch wurde. Aber was war das schon inmitten des Kriegselends? Die Ziermanns hatten überlebt und huldigten dem Herrn daheim vorm Jesusbild und in der „St.-Augustinus“-Kirche auf der anderen Seite der S-Bahn-Gleise. Bernhards Berufswunsch war der wohl folgerichtigste in dieser Zeit des Wiederaufbaus: Architekt. Nur hätte er dafür, so hieß es, zunächst auf dem Bau arbeiten sollen, drei Jahre lang. Das kam für den Lungenkranken nicht infrage, weshalb er ein mindestens so zeitgemäßes Handwerk wählte. Er wurde Glaser, zunächst in einem kleinen Privatbetrieb an der Schönhauser Allee, dann in der Produktionsgenossenschaft des Handwerks „Glas Berlin“.

Die war für die offiziellsten Fenster der DDR-Hauptstadt zuständig, und so geschah es, dass dieser Gottgläubige Zutritt erhielt zu den wichtigsten Bauten des Atheistenstaates. Er erneuerte die Scheiben an der großen Uhr des Roten Rathauses, wobei ein Foto entstanden ist, darauf schaut er frohgemut aus der Neun und steht mit den Füßen in der Acht. Er war auch an der Grenze unterwegs, auf dem Todesstreifen. Dort reparierte er die Wachturmfenster und empfand das nicht als Zumutung, sondern als erstaunliche Fügung: Sieh an, auch hier lassen sie mich arbeiten. Er war kein Mann, der aufbegehrte, nicht gegen Staat, nicht gegen Gott. Er hat auch nie erwogen, in den Westen zu gehen, weil ein Christ es dort leichter haben würde. Für die Härten, die er durchzumachen hatte, konnte das Staatswesen schließlich nichts.

Bernhard Ziermann mit seiner Frau Monika beim Tanzvergnügen
Bernhard Ziermann mit seiner Frau Monika beim Tanzvergnügen

© privat

Es ließ ihn seinen Glauben leben, und es ließ ihn bis August 1961 noch in den Westen reisen. Das war wichtig, da er dort seine Frau kennenlernte. In einer Vereinskneipe am Gesundbrunnen veranstaltete die katholische Kirche regelmäßig Kennenlernabende mit Tanz, eine notwendige Serviceleistung in der östlichen Diaspora, wo heiratswillige Katholiken rar waren. Dort traf Bernhard seine Monika Anna Aloisia, eine Blumenbinderin, die weit draußen in Falkensee wohnte, aber hin und wieder im Berliner Blumenladen übernachten durfte. So war es möglich, dass die beiden tanzen gingen, denn am Abend fuhren keine Bahnen mehr nach Falkensee. Ob Bernhard Monika nach dem Tanz je in den Blumenladen begleitet hat? Wer ihn kannte, schließt das aus: ganz bestimmt nicht ohne Ehesakrament.

Kennenlernen 1958, Heirat und Einzimmerwohnung 1961, Geburt des Sohnes 1962, Geburt der Tochter 1963, alles wohl gefügt. Mit diesem Jahr aber, 1963, setzten die Prüfungen ein. Nach der zweiten Geburt wurde Bernhards Frau krank, es wechselten Phasen beängstigenden Aktivismus mit solchen tiefer Depression, so tief, dass sie Monate in der Psychiatrie verbringen musste. Das wiederholte sich oft, viele Jahre lang, sie trank an gegen die Stimmungsschwankungen, sie nahm Tabletten. Ein Teufelskreis: für den, der an die bösen wie die guten Mächte glaubt, im wörtlichen Sinne.

Die Kinder erlebten eine Mutter, die merkwürdige Dinge tat, die sich herauszog aus dem Leben, und sie wunderten sich über ihren Vater, der das mit einer unendlichen Gelassenheit hinnahm. Nie sahen sie ihn unduldsam, weder gegen sie noch gegen seine Frau. Dass das am Glauben liegen konnte, blieb ihnen noch verborgen. Die Mutter in ihrer Hilflosigkeit praktizierte diesen Glauben besonders ernsthaft, lief täglich in die Kirche, betete vor Heiligenbildern. Und? Half es denn? Zu Hause wurde gemeinsam gebetet, regelmäßig und auf Knien vor dem großen Jesusbild, beim Essen und Zubettgehen sowieso. So machte man das eben.

Es war „der Augenklappenmörder“

Dass der Gottglaube etwas mit Stärke zu tun hatte, merkten die Kinder in der Schule, wo er nicht gefragt war. Sie waren weder bei den Pionieren noch in der FDJ und waren stolz darauf. Sie erlebten, wie ihre Eltern das den Lehrern erklärten: Kam einer zum Hausbesuch, zündeten sie eine Kerze an, platzierten ihn gegenüber dem Christusbild, und es war klar: Du hast deinen Glauben, wir den unseren. Amen.

Die Krankheit der Mutter währte beinah 20 Jahre. Erst dann erhielt sie ein Medikament, das half gegen die Stimmungsschwankungen und gegen den Drang, sie mit anderen Mitteln zu dämpfen. Es blieben ihr und ihrem Mann acht Jahre miteinander, die nicht mehr von ihrem Leid geprägt waren. Dafür wurde er immer kurzatmiger, so sehr, dass er mit 57 seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Das einzig Gute daran: Er bekam seit 1990 eine Invalidenrente, dem Jahr, in dem die DDR und die Produktionsgenossenschaften aufgelöst wurden.

Es war auch das Jahr, an dessen 7. Dezember, einem Freitag, dies geschah. Die Tochter Claudia kam am Abend zu Besuch und durfte zunächst nicht in das Haus. Erst als sie ihren Namen nannte, ließ der Polizist sie durch, schweigend. Im Hausflur standen weitere Polizisten. Am Boden lag ein Mensch, leblos, zugedeckt, Blut an der Wand. Claudia stieg die Treppe hoch, klingelte, der Vater öffnete die Tür, blickte sie an, und sie wusste, wer da unten lag.

Die Presse berichtete von einer Mordserie in Prenzlauer Berg, drei Frauen mit dem Messer erstochen, die Handtaschen gestohlen, eine dieser Frauen: Monika Anna Aloisia Ziermann. Jemand hatte einen Mann mit Augenklappe beobachtet, daher war für die Presse klar, es war „der Augenklappenmörder“.

Sühne gibt es nur vor Gott

Claudia fiel ihrem Vater in die Arme und weinte. Er weinte nicht. Sie weiß nicht mehr, was er gesagt hat, aber sie weiß, dass da keine Träne in seinen Augen war. Bernhard Ziermann war einer, der seinen Schmerz nicht teilte, mit niemandem. Sein bester Freund hat nie mit ihm über den Schlag, und was er ausgerichtet hat, gesprochen. Er geht davon aus, dass Bernhard Ziermann sich an höhere Instanzen wenden konnte: „Meinen Trost hat der nicht gebraucht.“ Vielleicht hat er ja recht, wer weiß.

Dafür spricht: Bernhard Ziermann bekam sein Leben in den Griff. Im Haushalt hatte er außer Fensterputzen und allem Handwerklichem bisher kaum etwas getan. Das lernte er jetzt schnell. Er kaufte eine neue Waschmaschine und eine Mikrowelle. Er rief die Tochter an: Wie kocht man Nudeln? Er ging essen. Und irgendwann, die Tochter brauchte eine Weile, das zu akzeptieren, antwortete er auf Kontaktanzeigen. Daraus wurde letztlich nichts; er sagte, dass er sich mit seiner kranken Lunge keiner Frau mehr zumuten wolle.

Noch etwas, das die Tochter wunderte: Bernhard Ziermann interessierte sich nicht für die Ermittlungen der Polizei. Sie waren ganz und gar ergebnislos, die Tochter quälte das, sie wollte Aufklärung. Warum war ihr Vater nur so anders? Sie erinnerte sich an Gespräche mit ihm über das Böse unter den Menschen. Sie erzählte ihm von Erfahrungen. Er ließ nichts davon gelten. Mag sein, dass das Böse den einen oder anderen verführt. Grundsätzlich aber, da war sich Bernhard Ziermann sicher, ist er gut, der Mensch. Wer das weiß, muss keinen Mörder überführen. Denn er weiß auch, dass ein weltliches Gericht mit Sühne nichts zu tun hat. Die gibt es nur vor Gott.

Weit weniger schicksalsergeben und duldsam war Bernhard Ziermanns Sohn. Er trank zu viel, und als er seine Arbeit verlor, trank er noch mehr. Kein Hilfsangebot erreichte ihn, alle Gebete seines Vaters blieben, wenn nicht ungehört, doch unbeantwortet und fruchtlos. Der Sohn starb im Jahr 2004 allein in seiner Wohnung. Es war Bernhard Ziermann, der gemeinsam mit seinem Schwiegersohn den toten Körper fand. Und wieder: keine Träne. Jedenfalls keine Träne vor dem Schwiegersohn, keine vor irgendeinem Menschen.

Das Dach der Kirche war das seine

An der Stelle, an der der Hiob des Alten Testaments erfährt, dass seine Reichtümer dahin und seine Kinder tot sind, heißt es: „Da stand Hiob auf und zerriss seine Kleider und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde und betete und sprach: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.“

Das mag auch Bernhard Ziermanns Credo gewesen sein, so große Worte und so große Gesten aber blieben ihm fremd. Wenn er über eine Trauer sprach, dann nur über jene, dass er seinem Sohn nicht helfen konnte.

Wer ihn kannte, spricht von einem stillen, kleinen Mann, der, wenn er mal lauter wurde, sang. Zu den schönsten Erinnerungen, die die Tochter an ihre Kindheit hat, gehören die Abende, wenn sie alle, Vater, Mutter, Sohn und Tochter, vierstimmige Lieder sangen. Der Tenor ihres Vaters, so erzählt sie, war von einer großen Sicherheit.

Weitverbreitet unter Christen ist die Haltung: Mein Glaube ist mir wichtig, aber mit der Kirche komme ich nicht zurecht. Eine Trennung, die für Bernhard Ziermann undenkbar war. Zur Welt gekommen war er im kirchlichen Krankenhaus „Maria Heimsuchung“, seine Frau hatte in ihren schweren Zeiten in der Psychiatrie des „St.-Joseph-Krankenhauses“ Hilfe gefunden, die Kinder waren in den Kindergarten der Gemeinde gegangen, er hatte sich an der großen Fensterreparatur der Kirche St. Augustinus beteiligt, er las Fürbitten, war Stimmführer im Seniorensingkreis, und er kam mit 71 Jahren in einer Gemeindewohnung unter. Das Dach der Kirche war das seine.

Natürlich empfahl er seiner Tochter, regelmäßiger den Gottesdienst aufzusuchen. Er schenkte ihr Heiligenbilder fürs Gebet. Selbstverständlich betrübte es ihn, dass sie nicht katholisch heiraten konnte, weil ihr Mann eine Scheidung hinter sich hatte. Wer aber war er, die Haltung seiner Kirche gegenüber den Geschiedenen zu kritisieren?

„Herr Ziermann, Sie werden sterben“

Im Epilog der Bibelgeschichte erhält Hiob reichen Dank für seine Treue. Gott macht ihn gesund, beschenkt ihn mit neuen Reichtümern und zehn neuen Kindern. So ein Kerl war der Chef des Alten Testaments. Bernhard Ziermanns Dreifaltigkeit hielt sich zurück.

In seiner Gemeinde gab es einen Kreis älterer Frauen, die trafen sich regelmäßig, um den Rosenkranz zu beten. Irgendwann kam er dazu, der erste Mann, der einzige bislang, und betete mit ihnen Woche für Woche den Freudenreichen Rosenkranz, den Schmerzhaften, den Glorreichen, sie versicherten einander, dass auf das Leid Erlösung folge, dass ein Sinn im Leiden steckt, sie lasen in der Bibel. Ob sie auch die Hiobsgeschichte lasen? Wenn sie es taten, dann kaum mit dem Hintersinn, dass ein Hiob unter ihnen saß. Denn dieser hier blieb still. Sein Leid war nie ein Thema. Er war hier, er betete, so fand er Hilfe.

Seit dem letzten Jahr war er schwach. Kam immer wieder ins Krankenhaus, eine Ärztin sagte: „Herr Ziermann, Sie werden sterben.“ Er antwortete: „Hm. Ja.“ Und erholte sich. Zum letzten Mal holten sie ihn am 14. März aus seiner Gemeindewohnung ab. Den Tragestuhl verbat er sich, zum Krankenwagen lief er am Stock, doch aufrecht. Für den Fall, dass es diesmal etwas länger dauern würde, hatte er eine Krawatte eingepackt, um zur Osterandacht in der Krankenhauskapelle würdig zu erscheinen. In der zweiten Nacht im Krankenhaus „St. Hedwig“ starb er.

Zwei Wochen später feierten die Christen Ostern, dieses erstaunliche Fest des Leides und des Opfers. Sie versicherten einander, dass ein Sinn in alldem steckt und dass es eine Auferstehung gibt. Gut haben es jene, die daran nicht zweifeln. Bernhard Ziermann, so erzählt es seine Tochter, hatte zeit seines Lebens einen ruhigen, gesunden Schlaf.

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