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Berlin: Bernhard Haaß (Geb. 1928)

„Meine Frau ist mein Kopf, und ich bin die Beine“

"Liebe Besucher, ich bin entweder einkaufen oder schaue mir die Welt an.“ Wenn seine Tochter diesen Zettel auf dem Tisch fand, machte sie sich besorgt auf den Weg und suchte die Straßen rund um die Gedächtniskirche nach dem kleinen Mann mit der Baskenmütze ab. Die Spaziergänge ihres Vaters waren nie ganz ungefährlich, denn Bernhard Haaß hatte sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Ein böser Sturz auf Malta. Er wollte rückwärts laufend ein Foto knipsen, stolperte, fiel mit dem Kopf auf einen Stein. Von da an war sein Leben ein anderes. Vor allem musste er das Autofahren aufgeben, was ihm sehr schwer fiel, denn ein neuer Golf stand vor der Tür.

Sein Gedächtnis war nun der Amtskalender der Evangelischen Kirche. In ihm steht die Losung für jeden Tag, es gibt Planungshilfen für den Gottesdienst und vor allem viel Platz für persönliche Einträge. Kam eines seiner Kinder zum wöchentlichen Besuch in die Eislebener Straße, war beim Abendbrot meist die erste Frage: „Na, Papa, was hast du heute erlebt? Hol doch mal dein Gedächtnis!“

Dann las der Vater schmunzelnd vor: „Acht Uhr Frühstück, Einkauf, dann eine Runde um die Gedächtniskirche spaziert, einen netten Nachbarn getroffen, Streit auf der Straße gehört, Mittagsschläfchen, einen Glühwein getrunken. Oh, und noch einen!“

Er konnte sich nicht dran erinnern, aber er konnte vorlesen, was er unternommen hatte. Als seine Frau noch lebte, machte sie sich oft Sorgen, ob er auch zurück nach Hause finden würde. Als sie gestorben war, deckte er sich abends allein den Tisch für das Frühstück. „Da fühle ich mich gleich eingeladen“, sagte er zur Erklärung. Aber eigentlich war es seine Strategie, das Frühstück und die Tabletten nicht zu vergessen. „Es gibt immer einen Weg, mit so einem Gebrechen umzugehen! Das kannst du weitersagen“, riet er seiner Tochter. Andere sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen. Auch was die gesunde Ernährung anging. „Mehr Gemüse“, flüsterte er vernehmlich, wenn er einen Dicken auf der Straße vor sich schnaufen sah.

Die Ladeninhaber rund um den Breitscheidplatz kannten den drahtigen kleinen Mann mit der schwarzen Umhängetasche und dem freundlichen Blick. Jeden Tag ging er auf Erkundung, und wenn er nette Menschen traf, fragte er leutselig nach dem Woher und dem Wohin und verteilte kleine Stadtpläne, die er anderswo gefunden hatte. Er liebte Berlin, und er wäre sehr gern ein echter Berliner gewesen. Aber er kam aus dem Erzgebirge. Der Großvater war Pfarrer, und der Vater auch, ein strenger Mann, stramm deutsch-national, mehr dem strafenden Gott des Alten Testaments nacheifernd als dem Erlöser des Neuen.

Bernhard war froh, als er das Elternhaus endlich verlassen konnte. Sein neues Leben begann in Berlin-Zehlendorf. An der Kirchlichen Hochschule studierte er Ende der 40er Jahre Theologie. Er traf seine große Liebe, verlor sie ein wenig aus den Augen, traf sie wieder in Leipzig und wurde Vater. Eine große Familie, fünf Kinder, und häufig kamen noch Pflegekinder dazu. Das ging nur, weil alle zusammenhielten, und eine das Sagen hatte.

„Meine Frau ist mein Kopf“, rühmte er immer, „und ich bin die Beine.“ Und die Hände. Er liebte alles Handwerkliche, er packte gern mit an. Nur so konnte er die Dorfkirchen seiner Gemeinden erhalten, die der Staat verfallen ließ. In den Westen wollte er dennoch nicht. „Hier brauchen mich die Leute.“ Er konnte gut mit den Menschen, weil er ehrlich war. Was er predigte, hat er geglaubt: „Jesus meine Zuversicht.“

Er tanzte gern, er liebte Kartoffeln, gekocht wie gebraten, und er spielte mit Leidenschaft Posaune. Musik ist Gotteslob. Hunderten Kindern und Jugendlichen brachte er das Posaunenspiel bei. Mit seinen Bläserchören reiste er im Sommer an die Ostsee und gab Konzerte in den Dorfkirchen. Überall sollte die Frohe Botschaft zu hören sein. Da ließ er auch von Staats wegen nicht mit sich handeln. Als seine Kinder wegen ihres Glaubens von den Lehrern drangsaliert wurden, schrieb er dem „Herrn Schulleiter“ einen Brief: „Warum wird nicht einmal darüber geredet, in seinen Urteilen vorsichtiger zu sein, nicht die Schwarz-Weiß-Klischees zu gebrauchen und vor allem mehr Achtung vor der persönlichen Überzeugung eines anderen zu haben? … Sie haben die Nazi-Zeit noch erlebt, wie mit billigen Parolen ein Volk irrgeführt und verdummt worden ist. Verzeihen Sie, wenn nun mein Brief etwas heftiger geworden ist als ursprünglich gewollt, aber diese Dinge können einen auch in Rage bringen.“

Er war Sozialist auf seine Weise, und er pflanzte Apfelbäume, wo immer er konnte, bis er in den Ruhestand versetzt wurde. Da erst zog es die Eheleute nach drüben. Neun Tage vor dem Mauerfall reisten sie nach West-Berlin aus. Sie machten sich die Tage so schön sie konnten, vor allem die Sonntage.

Der Kreis seines Lebens schloss sich in Zehlendorf, wo er auf dem Gelände der Kirchlichen Hochschule in den letzten Jahren in einem Pflegeheim wohnte. „Besucht mich jetzt, auf dem Friedhof braucht ihr mich dann nicht mehr zu besuchen“, mahnte er seine Kinder. Angst vor dem Tod hatte er keine. „Jeder Tag ist ein Bonustag“, frohlockte er, und er frohlockte gern: „Gebt nicht statt der Traurigkeit: sterbt ihr, Christus ruft euch wieder, wenn die letzt Posaun erklingt, die auch durch die Gräber dringt.“

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