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Berlin: Bernd Kuse (Geb. 1944)

„Borg’ dir immer mehr als du brauchst.“

In den Sechzigern hat er in Dresden Maschinenbau studiert. Als West-Berliner. Montagmorgens ist er mit einem Passierschein eingereist und freitagabends zum Feiern wieder zurück in den Westen gefahren. Die Stasi hat sich nie für ihn interessiert. Ist er durchs Raster gefallen?

Bernd passt in kein Raster: Er schert sich nicht darum, was sich gehört oder was von ihm erwartet wird. Er macht, was ihm gefällt – frei nach William Somerset Maugham: Man bereut vor allem die Sünden, die man nicht begangen hat. Ist er ein Lebenskünstler, ein Anarchist? Solche Kategorien hasst er. Er will sich nicht selbst hinterfragen.

Er ist einfach „Bücher-Bernd“. Er liebt Bücher. Und Inseln. Sylt, Sri Lanka, Hiddensee, Gomera. Seine Lieblingsinsel heißt West-Berlin, sein Hafen „Camilla Speth“, die älteste Buchhandlung am Ku’damm, Hausnummer 38/ 39, Ecke Knesebeckstraße. Es ist nicht nur sein Laden. Er ist der Laden. Hier kann er seine Leseleidenschaft ausleben – und davon leben kann er auch. Prominente Kunden geben sich die Klinke in die Hand: Katharina Thalbach, Detlef Buck, Rosa von Praunheim, Gudrun Landgrebe.

Und von hier bricht er allabendlich mit seiner Charlottenburger Clique ins Nachtleben rund um den Savignyplatz auf: Ins „Rum-Trader“, ins „Phönix“, in den „Zwiebelfisch“. Da rauchen sie Gitanes und trinken Myers’s Rum und Roederer Cristal. Am Morgen danach erwacht er manchmal auf dem Sofa in seinem Buchladen. Auch wenn der Schädel noch brummt, zieht er sich an, Jeans, Hemd, Weste, Cowboystiefel, und schließt den Laden auf. Wer feiern kann, kann auch arbeiten. Auch mit Fahne und verquollenen Augen.

Kunden berät Bernd kurz und knapp. Smalltalk ist nicht seins. Er ist freundlich, ohne sich zu verbiegen. Er ist lässig, ohne unhöflich zu sein. Als Helmut Kohl eines Tages den Buchladen betritt, sitzt Bernd breitbeinig auf einem Stuhl, den linken Fuß auf einem Aktenschrank abgestellt, und liest Zeitung. Eine Mitarbeiterin kümmert sich um den hohen Besuch. Bernd zuckt nicht. Er lugt nur kurz hinter seiner Zeitung hervor: „Guten Tag, Herr Bundeskanzler.“ Dann liest er weiter.

Sein Held: Donald Duck. Den vergöttert er. Wie Donald lebt auch er von der Hand in den Mund. Ein Gehaltskonto hat er nicht. Wenn er abends loszieht, nimmt er sich aus der Kasse, was er braucht. Die Buchhandlung läuft doch gut. „Borg’ dir immer mehr als du brauchst“, das ist sein Motto. Es gilt nicht nur fürs Geld, sondern fürs ganze Leben.

Wenn Bernd sich in einer der Kneipen daneben benimmt, geht er am nächsten Tag wieder hin und setzt sich an den Tresen, als wäre nichts geschehen. Unannehmlichkeiten? Werden ausgeblendet.

Manches lässt sich nicht ausblenden: 1981 nimmt sich Antonia, seine große Liebe, das Leben. Und Ursula, die nächste große Liebe, stirbt 1998 an Brustkrebs. Im selben Jahr verliert Bernd seine dritte große Liebe: „Camilla Speth“. Den Laden, den er von Antonia übernommen hat, muss er nach 16 Jahren als Besitzer dicht machen. Als der Räumungsverkauf ansteht, hängt er ein Schild ins Schaufenster: „Da wir raus müssen, sollten sie reinkommen.“

Die wilden Zeiten des Ku’damms sind vorbei. Die Grenzgänger, Lebenskünstler und Anarchisten sind verschwunden oder weiter gezogen, Richtung Mitte. Die Insel West-Berlin ist versunken. Mit „Camilla Speth“ schließt Bücher-Bernd einen Lebensabschnitt ab. Er zieht sich zurück in seine „Höhle“, einen alten Wohnwagen auf einer Werft in Pichelswerder an der Havel.

Er hat sich mehr Leben geborgt, als er gebraucht hat. Er hat getrunken und geraucht. Er bezahlt es mit Schlaganfällen und Lungenkrebs. Am 20. August ist Bücher-Bernd gestorben. Seine Urne ist mit einer Donald-Duck-Fahne in der Ostsee beigesetzt worden.

Am Ku’damm, Ecke Knesebeckstraße befinden sich jetzt ein Bekleidungsgeschäft, ein Supermarkt und ein Spielzeugladen – Angebot des Monats: „Schnatterente in Rosa oder Blau.“ Kein Donald Duck. Jan Mohnhaupt

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