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Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) in ihrem Büro in der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales in Berlin-Kreuzberg.

© Stefan Weger

Berlins Sozialsenatorin: Breitenbach: „Es ist Unsinn, dass ich Obdachlose gegeneinander ausspiele“

Sozialsenatorin Elke Breitenbach will Hilfen für Obdachlose ausbauen. Im Interview erklärt sie: In Lichtenberg sollen bald „Safe Places“ entstehen.

Von Ronja Ringelstein

Elke Breitenbach (Linke) ist Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales des Landes Berlin.

Frau Breitenbach, wie blicken Sie in der Rückschau und in Kenntnis der Ergebnisse auf die „Nacht der Solidarität“?
Die Zählung war der richtige Weg. Manche Freiwillige waren zwar enttäuscht, dass sie keine Obdachlosen getroffen haben, doch andere haben mit Obdachlosen gesprochen und waren tatsächlich sehr beeindruckt, weil diese Menschen ihnen bereitwillig sehr viel über ihr Leben erzählt haben.

Einer der Freiwilligen berichtete mir, er habe einen Menschen getroffen, der seit 27 Jahren auf der Straße lebt. Das konnte er sich gar nicht vorstellen. Ich bleibe dabei: Es wird weitere Zählungen geben.

Es gab auch viel Kritik, etwa von den Obdachlosenverbänden.
Kritik und Verbesserungsvorschläge sind legitim. Aber ich finde es nicht richtig, mit „Fake News“ und Unterstellungen zu arbeiten. Es ist Unsinn, dass wir die Zählung durchgeführt hätten, um die Schlafplätze der Obdachlosen bekannt zu machen und sie zu räumen. Oder dass ich Obdachlose gegeneinander ausspielen würde.

Wohnungsloseninitiativen wie die „Selbstvertretung Wohnungsloser“ waren in die Vorbereitung zur Nacht der Solidarität eingebunden und hätten es besser wissen müssen. Auch die nächste Zählung, die wir im Sommer 2021 durchführen wollen, bleibt freiwillig und wir kündigen sie natürlich vorher an. Aber ich frage mich, wie wir mehr Vertrauen gewinnen können, damit die obdachlosen Menschen sich nicht bedroht fühlen.

Warum traf man so viel weniger Obdachlose an – knapp 2000 – als zuvor mit 6000 bis 10000 geschätzt wurde?
Wir haben uns nie an Schätzungen beteiligt. Ich finde sie auch schwierig, denn die Grundlage dieser Schätzungen ist unklar. Mir kam es darauf an, festzustellen, wo und wie leben obdachlose Menschen und passen die Hilfsangebote, die wir für sie haben. Dank der Zählung und Befragung haben wir jetzt schon neue Erkenntnisse gewonnen, auch wenn wir keine Menschen in Abbruchhäusern gesucht haben. Wir haben auch nicht an Türen geklingelt und gefragt, ob jemand wohnungslose Menschen bei sich aufgenommen hat.

Wir werden niemals alle Wohnungs- und Obdachlosen zählen können. Damit müssen wir leben. Aber wir werden in Zukunft Vergleichszahlen haben und damit weitere Erkenntnisse gewinnen.

Im Haushalt sind 8,9 Millionen Euro für die Obdachlosenhilfe eingestellt. Wappnen Sie sich nun gegen Forderungen, dass angesichts der niedrigeren Zahlen, ein Teil des Geldes besser woanders aufgehoben wäre?
Nein, wir haben im Abgeordnetenhaus in keiner Haushaltsberatung über Schätzungen von Obdachlosenzahlen gesprochen. Und ich finde, wenn 2000 Menschen auf der Straße leben, ist das eine Herausforderung. Da liegt viel Arbeit vor uns und die 8,9 Millionen Euro werden gebraucht. Im Übrigen ist diese Summe nur ein Bruchteil des Geldes, das das Land Berlin für die Prävention und die Bewältigung von Wohnungslosigkeit ausgibt.

Was bringen Ihnen die Zahlen denn dann?
Es gibt für mich bei all dem Elend die positive Nachricht, dass in der Nacht der Solidarität sehr viele Menschen in den Einrichtungen der Kältehilfe übernachtet haben. Aber zur Wahrheit gehört auch: Dieses Angebot nutzt offenbar nur etwa die Hälfte der Obdachlosen. Aber wie erreiche ich die anderen? Da brauchen wir neue Wege, wie etwa den Wärmeraum in der Gitschiner Straße 15.

Also eine Einrichtung, wo die Menschen ihre Tiere mitbringen können und auch Alkohol konsumieren dürfen?
Ja, das ist der Unterschied zu vielen Einrichtungen der Kältehilfe.

Mit welchen konkreten Hilfsangeboten können Obdachlose in Berlin jetzt rechnen?
Da wir die Hälfte der Obdachlosen nicht in den Kältehilfe-Einrichtungen finden, müssen wir auch andere Schutzräume anbieten. Deshalb sind wir jetzt mit den Bezirken Lichtenberg und Friedrichshain-Kreuzberg ganz konkret im Gespräch, wo wir dort Schutzräume, also „Safe Places“, schaffen.

[Die Situation der Obdachlosen in Lichtenberg und der Umgang damit ist auch immer wieder Thema in unserem Lichtenberg-Newsletter vom Tagesspiegel. Einmal pro Woche, ganz unkompliziert und kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de]

Die Ergebnisse der Zählung in den einzelnen Bezirken.
Die Ergebnisse der Zählung in den einzelnen Bezirken.

© Tsp

In beiden Bezirken wurden in der Zählnacht mit die meisten Obdachlosen angetroffen. Am Bahnhof Lichtenberg und an der Rummelsburger Bucht haben sich Camps gebildet, immer wieder beschwerten sich Anwohner.
Wir möchten Räumungen verhindern und deshalb versuchen wir es mit „Safe Places“ – das sind sichere Orte, an denen Obdachlose leben können – und mit mobilen Unterkünften wie „Tiny Houses“ und hygienischen Einrichtungen sowie Beratungs- und Unterstützungsangeboten.

Zum Bahnhof Lichtenberg: Das Gelände gehört der Bahn und die hat gesagt, sie werde das Camp auf Dauer nicht dulden. Auch die Rummelsburger Bucht gehört zum Großteil einem privaten Investor und auch der wird irgendwann räumen, da kann ich nichts machen. Deshalb hatten wir uns mit dem Bezirk verständigt, eine weitere Einrichtung der Kältehilfe zu schaffen und den Menschen dort vorübergehend ein Quartier angeboten. Möglicherweise sind „Safe Places“ das Richtige. Wir haben das Geld dafür im Haushalt und werden jetzt gemeinsam mit den Bezirken schauen, ob das eine Lösung ist. Denn alles andere hat nicht funktioniert. Und ich habe von beiden Bezirken die Zusage, dass wir das jetzt machen.

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Glauben Sie, dass Sie viele Menschen auf der Straße einfach nicht erreichen?
Ja, auch das ist ein Problem. Ich erhoffe mir deshalb viel von den Obdachlosenlotsen und -lotsinnen, die wir jetzt im Rahmen des Solidarischen Grundeinkommens einsetzen werden. 54 Stellen sind berlinweit vorgesehen. Wir führen jetzt die ersten Auswahlgespräche, das heißt, die Lotsinnen und Lotsen werden bald mit der Arbeit beginnen.

Da diese Lotsen ehemalige Obdachlose sind, habe ich die Hoffnung, dass sie einen leichteren Zugang zu den Obdachlosen finden, vor allem zu jenen, die schon länger als drei Jahre auf der Straße leben.

Die freiwilligen Zählteams haben in der Nacht einige Obdachlose im Rollstuhl angetroffen, wie wollen Sie denen helfen?
Wir werden jetzt als nächstes barrierefreie ganzjährige Plätze in Notunterkünften schaffen. Dafür brauchen wir auch geschultes Personal, denn Ehrenamtliche, die in der Kältehilfe arbeiten, können das nicht leisten.
Zwei der befragten Obdachlosen haben angegeben, mit einem Kind zusammenzuleben – kann man hier jetzt konkrete Schritte einleiten? Der Staat kann doch nicht zusehen, wie Kinder auf der Straße leben.
Da habe ich auch geschluckt. Ich werde mir jetzt anschauen, in welchen Bezirken das war und dort mit der Jugendhilfe reden und schauen, wie wir diese Familien erreichen. Wir haben aber auch schon Notunterkünfte, in denen wohnungslose Familien mit Kindern untergebracht werden. Seit 2016 haben wir dieses Angebt erheblich ausgebaut. Aber wir sehen auch hier, der Bedarf ist höher.

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