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22 Jahre im Amt: Berlins Ärztekammer-Chef Günther Jonitz.

© Hannes Heine

Berlins langjähriger Ärztepräsident Günther Jonitz: „Wir haben gravierenden Reformbedarf“

Nach 22 Jahren hat Günther Jonitz sein Amt als Berliner Ärztepräsident abgegeben. Im Interview zieht er Bilanz - und sagt, was sich ändern muss.

22 Jahre als Ärztekammerpräsident im Hexenkessel Berlin. Herr Jonitz, wie übersteht man das unbeschadet?

Wie unbeschadet, das lasse ich mal offen. Aber man übersteht es, wenn man auf der Basis eines klaren Wertegerüstes arbeitet und daraus seine Ziele definiert. Die politisch-inhaltliche Arbeit war mir von allem immer am wichtigsten. Und das war auch das, was mich getragen hat.

Worin unterscheidet sich die Berliner Ärzteschaft denn vom Rest der Republik?

Berlin ist sicherlich ein besonderes Pflaster. Die Ärzte hier waren immer etwas offener, unkomplizierter, freier von Allüren. Und auch reformorientierter. Sonst wäre jemand wie ich hier wohl auch niemals Kammerpräsident geworden.

Zuletzt gab es aber Ärger im Präsidium, ihre Stellvertreterin Regine Held warf vor einem halben Jahr hin. Hängt Ihr Rücktritt auch damit zusammen?

Es war sicher der Auslöser, der einen Stein ins Rollen gebracht und mit meinem Rücktritt nun einen Zwischenstopp gefunden hat. Wie es danach in der Kammer weitergeht, wird man sehen. Ich bedauere es jedenfalls sehr, dass Regine Held innerhalb von 24 Stunden und per Email ihren Rücktritt erklärt hat. Die Gründe sind mir nach wie vor nicht nachvollziehbar. Aber dass Leute von einem Tag auf den anderen die Koffer packen, passiert in der Standespolitik ja nicht selten.

Bei der Kassenärztlichen Vereinigung war es ähnlich. Im Oktober warf die Vorsitzende Margret Stennes hin. Und ihr Vorstandskollege Mathias Coordt war nur ein paar Wochen im Amt. Ist die überraschende Rücktreterei ein Berlin-Phänomen oder was ist da los?

Mathias Coordt ist zurückgetreten, als er gemerkt hat, wie gewaltig die Aufräumarbeiten sind – nach allem, was die Vorgängertruppe angerichtet hatte. Der Rücktritt von Margret Stennes war Ausdruck von erheblichen Machtkämpfen im Lager der niedergelassenen Ärzte, wo mehr als nur zwei Fraktionen aufeinanderprallen. Interessanterweise kam der aggressivste Widerstand gegen sie dabei nicht aus der Opposition, sondern aus ihrer eigenen Liste. In Kassenärztlichen Vereinigungen und Kammern geht es leider ähnlich zu wie in der Politik. Viele Verhaltensweisen sind nicht inhaltlich begründet.

Was war denn, im Rückblick, Ihr größter Erfolg als Ärztepräsident?

Am meisten Freude hat mir gemacht, dass wir es von Berlin aus geschafft haben, das Thema Patientensicherheit aus der Tabuzone zu bekommen. Es war die Ärztekammer Berlin, die vor 20 Jahren die AOK überzeugen konnte, einen Berliner Gesundheitspreis zum Thema Patientensicherheit auszuschreiben. Das hat enorm viel bewegt und zum Positiven bewirkt.

In welcher Weise?

Bis zu der Preisausschreibung war Patientensicherheit nur ein Skandalthema. Für sogenannte Kunstfehler wurde man gegrillt, deshalb wollte keiner offen darüber reden. Es kamen dann richtig gute Vorschläge, wie man mit den Problemen sachlich, konstruktiv und lösungsorientiert umgehen kann. 2004 gab es einen wunderbaren Workshop mit den Preisträgern. Dort wurde vereinbart, ein Netzwerk zu gründen – also nicht länger nur nacheinander oder gegeneinander zu arbeiten, sondern in gemeinsamer Verantwortung für die Patienten. Daraus ist dann das Aktionsbündnis Patientensicherheit entstanden – eine Plattform, bei der alle mitmachten, vom Gesundheitsminister über die Chirurgen bis zur Notgemeinschaft Medizingeschädigter. Ein echter Paradigmenwechsel. Es gab da Schlüsselerlebnisse, bei denen ich jetzt noch eine Gänsehaut bekomme.

Mittlerweile fehlt das Thema kaum noch auf irgendeinem Kongress…

Ja, und auch andere Länder folgten unserem Beispiel. In Frankreich, Österreich, selbst in Japan wurden vergleichbare Netzwerke gegründet. Und in Großbritannien trafen sich jüngst Minister und Repräsentanten aus über 40 Ländern, um gemeinsame Empfehlungen zu erarbeiten. Das war entscheidend dafür, dass die WHO im Dezember 2020 das Thema Patientensicherheit und werteorientierte Versorgung offiziell auf die Agenda der G20 gehoben hat.

Das klingt, als wäre es für die Ärzteschaft weit wichtiger geworden, an die Öffentlichkeit zu gehen, sich zu erklären. Wie stark hat sich ärztliche Berufspolitik während Ihrer Amtszeit verändert?

Spätestens mit der Wahl von Klaus Reinhardt zum Präsidenten der Bundesärztekammer hat sich die Ego-Komponente deutlich verringert. Das klassische Funktionärs-Gehabe aus früheren Zeiten, wo alle zeigen mussten, wie toll und wichtig sie sind und dass sie immer recht haben, hat spürbar nachgelassen. Es gibt mittlerweile auch in den Ländern sehr kluge und pragmatische Kammerpräsidenten, die engagiert an Lösungen arbeiten – und zwar nicht bloß, um ihr eigenes Terrain zu verteidigen, sondern um bessere Versorgung hinzubekommen.

Die Coronakrise ist eine der größten Herausforderungen für Mediziner seit Jahrzehnten. Wie klappt es damit in Berlin – und was könnte besser laufen?

Es klappt vergleichsweise gut, was auch mit einer engagierten Gesundheitssenatorin zu tun hat. Und mit enger Zusammenarbeit: Eine Zeit lang hatten wir jeden Tag um 12 Uhr eine Telefonkonferenz mit der Senatorin, dem Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung, den Chefs der Berliner Krankenhausgesellschaft. Auf diese Weise ließen sich viele Friktionen verringern. Hilfreich war auch die Entscheidung des Senats, bei der Impfstrategie auf erfahrene Organisatoren wie den früheren Feuerwehrchef Albrecht Broemme zurückzugreifen. Auch die Impfung in den Pflegeheimen ist vergleichsweise gut gelaufen.

Gar nichts zu kritisieren?

Man hätte die niedergelassenen Ärzte beim Impfen stärker einbinden sollen. Die haben in ihren Praxen nun mal den besten Zugang zu Risikogruppen und auch deren Vertrauen, allen voran die Hausärzte. Ich hätte mir gewünscht, dass man ihnen frühzeitig eigene Impfkontingente zur Verfügung gestellt hätte. Technisch wäre das kein Problem gewesen, selbst der hochsensible BioNTech-Impfstoff kann schließlich über einige Stunden normal transportiert werden.

Viele schauen neidisch nach Israel oder Großbritannien, wenn es um die Impfkampagne geht. Brauchen wir mehr staatliche Durchgriffsrechte, um in der Krise schneller und effektiver reagieren zu können?

Nein, ganz im Gegenteil. Zwar braucht unser Gesundheitswesen dringend Führung. Aber das ist was anderes als Administration mit autoritären Vorgaben. Es bedeutet, dass jemand Verantwortung wahrnimmt, die Akteure an einen Tisch holt, gemeinsame Ziele definiert und gemeinsame Maßnahmen untereinander abstimmt. Das gibt es in Deutschland praktisch nicht. Wir werden konfrontiert mit fertigen staatlichen Vorgaben, die in der Praxis dann oft nicht wirklich funktionieren. Das ist einer der grundsätzlichen Webfehler unseres Gesundheitssystems. Gemäß Grundgesetz liegt die Umsetzungsverantwortung bei den Ländern. Aber wer das Geld verteilt, das ist der Bund. So können Sie keine Imbissbude führen.

Im Moment streiten reiche Staaten über die Frage, wer genügend Impfstoff bestellt und wer genügend abbekommen wird. Finden Sie solche nationalen Egoismen beunruhigend oder ganz normal?

Es ist normal, aber beunruhigend finde ich es trotzdem. Wir haben ja gesehen, dass sich die USA und Israel sehr schnell große Impfstoff-Mengen gesichert haben. Allerdings auch zu deutlich höheren Preisen. Dass wir gesamteuropäisch agieren, also auch sehr arme Länder wie Rumänien oder Bulgarien nicht benachteiligen, halte ich als überzeugter Europäer für richtig. Aber es hat sich eben leider auch gezeigt, dass die EU-Kommission eine hochbürokratische Einrichtung ist, die auf dem Verwaltungsweg agiert und dadurch sehr eingeschränkte Möglichkeiten hat. Mit besseren Strukturen hätte man weitsichtiger entscheiden und handeln können.

Bei manchen Medizinern fehlt es in der Coronakrise nicht bloß an Weitsicht, sondern auch an grundlegender Einsicht. Sogenannte „Ärzte für Aufklärung“ treten als Redner bei Corona-Demonstrationen auf und stellen großzügig, und ohne die Patienten überhaupt gesehen zu haben, Atteste gegen die Maskenpflicht aus. Wie sollte man mit solchen Standeskollegen umgehen?

Ich finde deren Verhalten verwerflich, ich habe nicht das geringste Verständnis dafür. Man kann lange rätseln, weshalb diese Kollegen so abgedriftet und inhaltlichen Argumenten nicht zugänglich sind. Aber das führt nicht weiter. Daher haben wir als Berliner Ärztekammer sehr früh und entschieden reagiert. Alle, die auf solchen Listen standen, wurden angeschrieben, um Erklärung für ihr Verhalten gebeten, mit Sachinformation versorgt. Das hatte den Erfolg, dass sich etliche eines Besseren besannen und aus solchen Aktionen zurückzogen. Wo Patienten aufgefordert wurden, in Wartezimmer und Behandlungsraum keine Masken zu tragen, wurden die Gesundheitsämter eingeschaltet – weil deren Mitarbeiter in die Praxen gehen und diese schließen können. Und bei Hinweisen auf die Ausstellung falscher Maskenatteste haben wir uns an die Staatsanwaltschaft gewandt.

In anderer Hinsicht sind Sie dezenter. Acht Ärztekammern haben die Homöopathie aus ihrer Weiterbildungsordnung gestrichen. Warum nicht auch Berlin?

Gute Frage. Wir sind da noch dran. Letztendlich handelt es sich um eine Ermessensfrage. Denn in einem Punkt sind sich eigentlich alle einig: Was von der Homöopathie als mechanistisches Wirkprinzip angeboten wird, also das mit den Kügelchen und Potenzen, ist blühender Unsinn.

Warum dann keine klare Abgrenzung?

Um jemandem beim Gesundwerden zu helfen, kommt der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient entscheidende Bedeutung zu. Für die Behandlung eines Kassenpatienten erhält ein niedergelassener Arzt im gesamten Quartal aber grade mal 25 bis 35 Euro. Für eine ausgiebige, eineinhalbstündige homöopathische Anamnese gibt es das Dreifache. Da nimmt es doch nicht wunder, dass sich eine große Zahl von Ärztinnen und Ärzten die Zusatzbezeichnung Homöopathie erwirbt, um mehr Zeit zu haben und sich wirklich mit den Patienten auseinanderzusetzen zu können. Oft finden sie dabei dann ja auch heraus, dass es sich gar nicht um eine organische Krankheit handelt, dass der Patient eher psychotherapeutischer Hilfe bedarf und dafür auch zugänglich ist.

Schulmediziner erwerben die Zusatzbezeichnung Homöopathie, um sich mit mehr Zeit und Ruhe um ihre Patienten kümmern zu können – obwohl sie selber gar nicht an Globuli und den restlichen Hokuspokus glauben?

Ja. Schwierig wird es nur, wenn jemand nicht erkennt, wo er damit aufhören und auf Schulmedizin und echte Medikamente zurückgreifen muss. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Art und Weise, wie aus der Homöopathie eine Religion gemacht wird, finde ich furchtbar. Das ist auch des menschlichen Verstandes unwürdig. Gleichzeitig handelt es sich hier aber um einen der wenigen Bereiche unseres Gesundheitssystems, wo durch eine intensive und auch ritualisierte Arzt-Patienten-Beziehung salutogenetisch agiert werden kann. Man bekämpft die Krankheit nicht bloß mit irgendwelchen Substanzen, sondern versetzt den Patienten in die Lage, seinen Beitrag zur Selbstheilung zu leisten. Deshalb bin ich bei diesem Thema kein vehementer Schwarz-Weiß-Verfechter. Es kommt drauf an, wie man solche Methoden anwendet.

Heißt jedenfalls in der Umkehrung: Es wäre dringend nötig, die sprechende Medizin aufzuwerten und besser zu honorieren…

Wir haben gravierenden Reformbedarf. Das beginnt damit, dass wir zu viel Geld ausgeben für Dinge und zu wenig für Menschen. Im jetzigen System der Einzelleistungsvergütung, mit Budgets im ambulanten Sektor und mit Fallpauschalen in den Krankenhäusern, bleibt fast alles, was die zwischenmenschliche Komponente betrifft, auf der Strecke. Deshalb müssen wir uns dringend Gedanken darüber machen, wie wir eine bessere und nachhaltigere Patientenversorgung hinbekommen. In Deutschland wird das bedauerlicherweise noch viel zu wenig diskutiert. Andere Länder wie Großbritannien oder die Schweiz sind da weiter.

Ein Präsident der Bundesärztekammer hätte bei solchen Themen Pflöcke einschlagen können. Sie haben mehrmals für diesen Posten kandidiert, es hat nicht geklappt. Empfinden Sie mit Blick darauf Verbitterung?

Wenn man in eine Wahl geht und sie verliert, löst das keine gute Laune aus. Alles andere wäre seltsam. Aber Verbitterung? Nein. Ich habe keinen Anspruch auf ein Amt. Das ist ja das Schöne an der Demokratie: Man macht den Leuten ein Angebot und muss dann schauen, ob’s klappt. Ich habe es dreimal versucht und bin nicht durchgekommen. Das erste Mal, 2007, hatte ich als Vizepräsident kandidiert und bin Frank Ulrich Montgomery knapp unterlegen. Beim zweiten Mal, 2011, hatte ich den Hausärzteverband hinter mir; es hat trotzdem nicht gereicht. Und 2019 wollten die niedergelassenen Mediziner endlich mal einen eigenen Verbandsvertreter als Präsidenten. Dagegen kam ich auch nicht an.

Ein Wort zu Ihrem Nachfolger…

Ich drücke Peter Bobbert die Daumen für ein gutes Wahlergebnis. Er ist ein beeindruckender Rhetoriker und Strippenzieher, auch einer, der sich in der klassischen Politik bestens auskennt. Er schafft es, selbst bei heiklen Themen in den Gremien so lange gut Wetter zu machen, bis er irgendwelche Mehrheiten zusammen hat. Allerdings erbt er eine Ärztekammer, die seit Jahrzehnten für Inhalte und eine bestimmte ärztliche Haltung steht. Ich sage es offen: Peter ist eine Art Antithese zu mir. Sein politischer Stil und seine Kernausrichtung haben mit meiner nur sehr geringe Schnittmengen. Was daraus entsteht, wird sich zeigen.

Sie sind nicht mal 63. Was haben Sie noch vor?

Erst mal, freier zu atmen. Auch etwas mehr Frieden zu genießen. In den vergangenen Jahren war das schwierig. Wenn Sie Leute im engsten Umfeld haben, die einen erbittert bekämpfen und alles zu blockieren versuchen, was einen antreibt – dann kostet das Kraft. Ansonsten bleibe ich weiter in der Politikberatung und -gestaltung. Dabei werde mich auch international einbringen, etwa bei Projekten zur Patientensicherheit. Nicht um als Alphatier irgendwo vornedran zu stehen, sondern weil mir solche Themen nach wie vor wichtig sind.

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