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Schutzmann. Andreas Geisel (SPD) ist seit Dezember 2016 Innensenator. Vorher war der 53-jährige Senator für Stadtentwicklung und Bürgermeister in Lichtenberg.

© Mike Wolff

Berlins Innensenator zum Anschlag in Hanau: „Ich hüte mich, Nazis als schlau zu bezeichnen“

Mehr Schutz für Moscheen, Kontrollen in Shishabars und mehr rechte Gewalt. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) spricht über die Sicherheitslage in Berlin.

Herr Geisel, wie wollen Sie migrantisches Leben in Berlin schützen?
Seit Freitag schützt die Polizei mehrere große Moscheen in Berlin. Wir müssen aber auch überlegen, was wir für Vereine und Kulturzentren tun können. In Halle hat nur eine Schutztür ein Massaker verhindert, wir wollen deshalb auch für stark frequentierte migrantische Einrichtungen oder Moscheen die baulichen Sicherheitsmaßnahmen verstärken.

Was wollen Sie tun?
Das Abgeordnetenhaus hat für 2020 und 2021 je fünf Millionen Euro für den Opferschutz zur Verfügung gestellt, davon könnte man das zum Beispiel finanzieren. Das Infame dieser Anschläge ist ja, dass die Täter versuchen, durch Angst die Menschen zu vereinzeln, sie zu isolieren. Unsere offene und tolerante Gesellschaft wird nur stark bleiben, wenn wir alle zusammenhalten, wenn wir nicht zulassen, dass Menschen vereinzelt werden, weil Rassisten einzelne Teile unserer Gesellschaft angreifen. Die Täter dürfen nicht glauben, sie könnten das ungestraft tun oder sie hätten eine stillschweigende Zustimmung der Mehrheit. Deshalb ist es wichtig, auch ein Signal in die migrantische Community der Stadt zu senden. Ihr seid nicht alleine. Wir sind alle Zielscheibe dieser Rassisten.

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Migrantische Organisationen werfen der deutschen Politik vor, mit Kontrollen von Shisha-Bars, wie auch in Berlin, Vorurteile zu schüren. Was antworten Sie denen?
Wir bekämpfen nicht die Shisha-Bars, wir bekämpfen Kriminalität – das muss man sauber trennen. Welchen Sinn soll es haben, Kontrollen von Shisha-Bars einzustellen, weil jetzt ein Anschlag stattgefunden hat? Das werden wir nicht tun. Wir bekämpfen bei Kontrollen Kriminalität, wir finden dort Tonnen von nicht versteuertem Shisha-Tabak, Verstöße gegen Brandschutzverordnungen, Schwarzgeld und Ähnliches. Es gibt Kriminalität in Shisha-Bars – aber keine Sippenhaft.

Die Tat hat mehr als 500 Kilometer entfernt von Berlin stattgefunden. Können Sie verstehen, dass die Menschen in der Stadt besorgt sind?
Es gibt nach derzeitiger Kenntnis keine direkten Bezüge nach Berlin. Ich nehme die Sorgen der Menschen mit migrantischen Wurzeln um ihre Sicherheit aber sehr ernst. Deshalb habe ich für Montagnachmittag die migrantischen Vereine in die Innenverwaltung eingeladen, um mit ihnen über die aktuelle Sicherheitslage und entsprechenden Schutz zu sprechen.

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Ist ein rechtsextremistischer Anschlag wie in Hanau auch in Berlin möglich?
Wir sagen seit geraumer Zeit, dass wir eine abstrakt hohe Gefährdungslage haben – auch in Berlin. Der Bundesinnenminister und die Innenminister der Länder sind sich einig: Die Gefährdung speziell durch den Rechtsextremismus ist sehr hoch. Deshalb müssen wir handeln.

Der Attentäter von Hanau war wohl ein Verschwörungstheoretiker mit einem rassistischen, rechtsextremistischen Weltbild. Er handelte allein. Wie sind die Berliner Sicherheitsbehörden auf solche Gefährder vorbereitet?
Solche Täter sind ein großes Problem für uns. Sie tauchen im Moment nicht auf unserem Radar auf. Da müssen wir uns stärker aufstellen – das haben wir schon nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle gemerkt. Das Bundeskriminalamt arbeitet gegenwärtig daran, das Analysetool „Radar IT“ auf rechtsextremistische Gefährder auszuweiten – bislang wurde es im Bereich Islamismus eingesetzt.

Was wollen Sie bei der Berliner Polizei konkret verändern?
Wir arbeiten gerade an der Neustrukturierung der Berliner Polizei. Mit der Strukturreform haben wir eine neue Landespolizeidirektion geschaffen. Wichtige Veränderungen in der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus haben wir mit Gründung des LKA 8 bereits angeschoben. Wir müssen jetzt auch das LKA 5 nochmal betrachten – das ist der Staatsschutz. Dort arbeiten schon jetzt sehr engagierte Beamte, aber es müssen mehr werden und sie brauchen die notwendige technische Ausstattung

Warum wächst die Gefahr durch solche Anschläge aus Ihrer Sicht?
Wir stellen eine Entgrenzung des Rechtsextremismus fest: Politische Thesen, die vor Jahren geächtet, tabuisiert und randständig gewesen sind, rücken in die Mitte des Diskurses. Durch das Erstarken des Rechtspopulismus werden mittlerweile Regierungskrisen ausgelöst. Demokratie und Rechtsstaat werden angegriffen. Dadurch fühlen sich Rechtsextremisten ermutigt, den Worten Taten folgen zu lassen. Das hat sich in den vergangenen Monaten verstärkt. Die AfD legt mit ihrem Rechtspopulismus und mit ihrer Hetze den Nährboden für diese Taten.

Wie haben sich rechts motivierte Straftaten in Berlin entwickelt?
Wir haben im vergangenen Jahr einen Anstieg von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen müssen. Die Zahl der Taten ist von 1789 auf 1932 Fälle gestiegen. Das ist bemerkenswert hoch. Wir haben eine leichte Steigerung der Aufklärungsquote auf 37,7 Prozent, 1,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Besonders beunruhigend ist, dass wir auch eine deutliche Steigerung der Gewaltdelikte haben. Die Zahl stieg von 128 im Jahr 2018 auf 153 Fälle im vergangenen Jahr.

Das ist ein Anstieg von fast 20 Prozent. Besitzt der Rechtsstaat die notwendigen Instrumente, um der Gefahr von rechts zu begegnen?
Ich bin vorsichtig mit der Verschärfung von Gesetzen. Das ist immer schnell gesagt. Dabei wissen wir nicht, ob strengere Gesetze dazu geführt hätten, Täter aufzuspüren. Bei dem Täter von Hanau handelt es sich offensichtlich um einen psychisch labilen Mann, der seit vielen Jahren wirre Manifeste verschickt hat. Das hätte auch nach bestehender Rechtslage zu Nachfragen führen müssen. Trotzdem ist er in seinem Sportschützenverein jahrelang nicht aufgefallen. Wir müssen deshalb schauen, wie wir Erkenntnisse auf Grundlage der bestehenden Gesetze künftig besser zusammenfügen und welche Schlussfolgerungen wir ziehen.

CDU und FDP machen immer häufiger mit der AfD gemeinsame Sache. Auf kommunaler Ebene wird miteinander abgestimmt, in Thüringen und Sachsen-Anhalt wurde eine Zusammenarbeit vorbereitet. Wie erleben Sie das in Berlin?
Ich glaube, dass wir die Lehren aus Weimar ziehen müssen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Gefahr besteht, dass sich Fehler wiederholen. Die Weimarer Republik ist auch deshalb gescheitert, weil es zu wenig Unterstützung für die Demokratie gegeben hat. Was mir Sorgen macht, ist die Gleichgültigkeit der Mitte, die das einfach geschehen lässt. Sie überlässt den Rechtsextremisten die Hoheit über die Stammtische. Viele denken, es sei eine Selbstverständlichkeit, dass der Rechtsstaat funktioniert und wir eine fest verankerte Demokratie haben. Sie irren sich. Wichtig ist: Wir Demokraten müssen zusammenstehen, wir müssen miteinander reden und auch gemeinsam handeln. Demokraten sehe ich übrigens auch rechts der Mitte.

Zuletzt wurde in Berlin vor allem links motivierte Kriminalität diskutiert. CDU und FDP werfen der rot-rot-grünen Koalition vor, den Linksextremismus in der Stadt nicht ernst genug zu nehmen.
Das schließe ich für mich aus. Eins ist klar: Wir dürfen Rechtsextremismus und Linksextremismus nicht gleichsetzen. Die aktuelle Gefahr für unseren Staat und Anschläge auf Menschenleben kommen ganz eindeutig aus der rechtsextremistischen Ecke. Aber die Demokratie wird auch vom Linksextremismus bedroht. Es finden sogenannte Hausbesuche statt, Fensterscheiben von Privatwohnungen werden eingeschlagen und Abgeordnete angegriffen. Man sagt ihnen: Wir wissen, wo deine Kinder wohnen. Gewalttätige Linksextremisten sind keine Freunde der Demokratie – wir müssen sie ebenfalls bekämpfen.

In Neukölln werden seit Jahren Migranten angegriffen und Menschen, die sich gegen rechts engagieren. Sie haben die Taten zwar mit scharfen Worten verurteilt, aufgeklärt sind sie aber nicht. Kostet das nicht Vertrauen in die Sicherheitsbehörden?
Wichtig ist, dass der Staat sich rechtsstaatlich verhält. Gerichte haben nach dem zu urteilen, was sie an Beweisen vorliegen haben. Natürlich hätte ich gern, dass die Täter überführt und verurteilt werden – das geht in einem Rechtsstaat aber nur mit gerichtsfesten Beweisen.

Im Bereich der Clan- oder Jugendkriminalität gibt es den Konsens, dass jede Kleinigkeit unmittelbar verfolgt wird. Die Opfer in Neukölln haben ein anderes Gefühl.
Gerichte sind aus guten Gründen unabhängig, aber es gibt in der rot-rot-grünen Koalition politische Einigkeit, dass wir rechts motivierte Straftaten konsequent verfolgen. Der Ermittlungsdruck hat in Neukölln übrigens dazu geführt, dass es seit anderthalb Jahren keinen Anschlag mehr gegeben hat. Unser Handeln bleibt also nicht wirkungslos.

Wie kann es sein, dass die mutmaßlichen Täter davor jahrelang fast ungestört vorgingen – gehen die so klug vor?
Ich hüte mich davor, Nazis als schlau zu bezeichnen. Aber die mutmaßlichen Täter sind polizeierfahren und wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Die Polizei hat eine Reihe von Indizien gesammelt. Es liegt in der Hand der Gerichte, die Beweise zu bewerten. Wir sammeln weiter – dafür gibt es die von mir eingesetzte Ermittlungsgruppe „Fokus”.

Die Sicherheitsbehörden haben einen dritten Tatverdächtigen ermittelt. Es handelt sich um einen bekannten Neonazi. Reicht das nun, damit der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernimmt und die Anschlagsserie als rechtsextremistisch motivierten Terror einstuft?
Mit dem Generalbundesanwalt gibt es die Vereinbarung, dass er diese mutmaßlich rechtsextremistisch motivierte Anschlagsserie in Neukölln im Blick hat und sie noch einmal beurteilt, wenn neue Ergebnisse vorliegen. Ein Ergebnis ist, dass wir jetzt drei Täter haben. Damit ist zumindest die juristische Voraussetzung für eine terroristische Vereinigung gegeben.

Das Misstrauen den Sicherheitsbehörden gegenüber ist groß. Rechte Strukturen in der Polizei werden beklagt, die angeblich die Aufklärung verhindern.
Die Opfer der Neuköllner Anschlagsserie haben mein ganzes Mitgefühl. Subjektiv verstehe ich, dass ein solcher Verdacht geäußert wird, wenn man in unmittelbarer Bedrohung lebt. Wir haben aber sehr intensiv in der Behörde ermittelt. Nach jetzigem Stand gibt es niemanden, der dort die Ermittlungsarbeit sabotiert hat – wir haben bislang keine rechten Netzwerke in der Berliner Polizei gefunden.

Trotzdem gibt es ja diverse Fälle von Beamten, die wegen ihrer rechtsextremistischen Verbindungen auffielen. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass ein Polizist Mitglied einer Chatgruppe war, in der rechtsextremistisches Gedankengut geteilt wurde.
Wir haben in Berlin eine Reihe von Einzelfällen – und es werden mehr. Aber ich sage Ihnen, wenn ich bei den Sicherheitsbehörden unterwegs bin, treffe ich dort auf 99,9 Prozent Beamte, die auf der Seite der Verfassung stehen, die hochmotiviert und reflektiert sind. Das sind die Guten – sie verteidigen unseren Rechtsstaat gegen jede Form des Extremismus. Umso wichtiger ist es, die zu identifizieren, die das nicht tun. Wir haben deshalb ein Konzept erarbeitet, um behördenintern extremistische Gesinnungen schneller erkennen und auch präventiv tätig werden zu können. Ich werde es in Kürze vorstellen. Sicherheitsbehörden können nur dann öffentliches Vertrauen erwarten, wenn sie offensiv gegen Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen vorgehen.

Als Freund und Helfer gilt die Polizei – gerade in Berlin – in bestimmten Kreisen nicht. Was muss passieren, damit sie wieder dazu wird?
Ich weiß nicht, woher Sie diesen Eindruck haben. Meiner ist: Die Polizei ist unser Freund und Helfer. Wir stärken die Demokratie nur, wenn wir uns auch zu unseren Staatsorganen bekennen – einschließlich der Bundeswehr, der Polizei, der Sicherheitsbehörden. Weil sie für diese Demokratie einstehen. Wir dürfen die Symbole der Demokratie nicht den Extremisten oder den Rechtspopulisten überlassen.

Schaffen die Sicherheitsbehörden es, der Lage Herr zu werden, oder muss auch die Zivilgesellschaft viel stärker selbst aktiv werden?
Darauf muss ich zwei Antworten geben. Erstens fühlen sich Täter ermutigt durch ein gesellschaftliches Klima, das ihnen vorgaukelt, dass sie Unterstützung haben. Das heißt, da ist jeder aufgefordert, zu sagen: Wir wollen das nicht. Wir wollen in einem freien, offenen, toleranten Deutschland leben, und das müssen wir auch verteidigen. Dazu gehört dann auch, zu widersprechen, wenn jemand „Ausländer raus“ sagt, und das nicht stillschweigend hinzunehmen.

Und zweitens?
Wenn Sie mich fragen, ob die Sicherheitsbehörden in der Lage sind, Täter zu identifizieren und ihrer habhaft zu werden, dann sage ich: Ja, die sind sehr gut aufgestellt. Ich finde das, was die Sicherheitsbehörden machen, sehr überzeugend. Aber niemand kann uns hundertprozentige Sicherheit versprechen.

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