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Neuer Tag, neues Glück? Am 26. September wählt Berlin - aber die Spitzenkandidaten für die Stadt wollen, ist nicht klar.

© Jörg Carstensen/dpa

Berlins ideenlose Spitzenkandidaten: Der öko-soziale Konservatismus von Giffey, Jarasch, Wegner & Co.

Großstädte stehen vor gewaltigen Herausforderungen - auch Berlin. Die Spitzenkandidaten schmieden aber bisher vor allem gestrige Mikro-Pläne. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Julius Betschka

Wer durch den Modellversuch an der Friedrichstraße läuft, merkt rasch wie es in Berlin um Visionen bestellt ist: Autos sind ausgesperrt, gelbe Linien kleben auf dem Boden, Bäume wachsen in Kübeln – und es ist menschenleer. Stellt sich Berlins Regierung so die Stadt der Zukunft vor?

Der Modellversuch, so zweifelsohne gut gemeint er gewesen sein mag, zeigt beispielhaft, woran es in Berlin zu oft fehlt: an einem größeren Plan, den Fähigkeiten, ihn umzusetzen und innovativen Ideen. Ach, denken die Optimisten, zum Glück wird ja im September gewählt, bis dahin findet sicher noch ein Wettkampf der Ideen statt.

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Die Beliebtheitsergebnisse für Franziska Giffey (SPD, 24 Prozent), Klaus Lederer (Linke, 13 Prozent), Kai Wegner (CDU, 13 Prozent) und Bettina Jarasch (Grüne, elf Prozent) wirken seit Monaten wie festgefahren, und von einem Wahlkampf der Ideen kann nicht die Rede sein. Franziska Giffey fiel bislang vor allem durch das Auflisten davon auf, was alles garantiert nicht gehe. Jarasch verhedderte sich in nicht umsetzbaren Forderungen, wie dem teilweisen Rückbau eines Stücks der A100 und wich der eigentlich urgrünen Debatte um berlinweit Tempo 30 komplett aus. Kai Wegner fokussiert sich auf Schlagloch-Reparatur – wie in einer Kleinstadt. Nichts davon klingt nach Antwort auf die großen Herausforderungen, vor denen Berlin steht.

Das 21. Jahrhundert wird das der Metropolen - wo steht Berlin?

Wenn das 20. Jahrhundert das der Nationalstaaten war, wird das 21. Jahrhundert das der Metropolen werden. Sie müssen die zentralen Probleme der post-modernen Gesellschaft angehen: Klima, Integration, Sicherheit und Mobilität. „Wenn Bürgermeister die Welt regierten, wären viele globale Probleme längst gelöst“, schrieb der amerikanische Professor für Zivilgesellschaft, Benjamin Barber, einmal. Weil sie konkreter und bürgernäher auf Krisen reagieren könnten.

Andere europäische Metropolen sind bereits aktiv: Madrid baut einen 75 Kilometer langen Wald mit fast einer halben Million Bäume, um die Stadt zu kühlen und CO2 zu absorbieren. Paris will seine Innenstadt schon ab kommendem Jahr weitestgehend autofrei gestalten. In Brüssels kompletter Innenstadt gilt Tempo 30, Londons Bürgermeister will die versmogte City zur „weltweit grünsten“ machen. Klar, das sind erstmal nur Ankündigungen – aber sie transportieren eine Vision, hinter der sich die Stadtgesellschaften versammeln können.

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In Berlin scheint sich dagegen eine Art öko-sozialer Konservatismus breit gemacht zu haben: Er gleicht einer Heroisierung der leeren Post-Wende-Stadt, dem Drängen ins Gestern. Die großen politischen Projekte dieser Legislaturperiode zeigen die Richtung: der (gescheiterte) Mietendeckel und das (zum Scheitern verurteilte) Enteignungsvolksbegehren. Dazu soll am Besten alles kleinteilig, hyperlokal, gemeinschaftlich gelöst werden, Veränderung soll ja nicht zu schnell gehen – das strahlen auch die drei Favoriten im Wahlkampf aus.

Vielen mag das sympathisch erscheinen, nur wird man so keine einzige Herausforderung lösen können, dafür aber global den Anschluss verlieren. Kein noch so schöner Kiez kann sich allein gegen den Klimawandel stemmen, kein Kiez allein kann Integrationsprobleme regeln und lösen, aber eine klug geführte Millionenstadt, die könnte einen Unterschied machen und weltweit als Vorbild dienen.

Es scheint, als seien die drei Favorit:innen um das Bürgermeisteramt schon vor Amtsantritt eingeschüchtert vom politisch-administrativen Ökosystem Berlins. Das Kompetenzgerangel zwischen Senat und Bezirken lähmt diese Stadt – und dieses Problem will niemand ernsthaft angehen. Es fehlt nach wie vor ein Berlin-Plan. Und dabei geht es nicht um Gigantismus. So ist diese Stadt nicht, so soll sie nicht sein. Es geht um eine Idee der Kandidierenden, wie aus der Betonstadt des 20. Jahrhunderts eine umweltfreundliche und digitale Metropole werden kann. Darüber würde sich nicht nur die Friedrichstraße freuen.

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