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Das integrative Utopia Orchester in ihrem Proberaum im Stadtschloss Moabit am 29. November 2019.

© Stefan Weger

Berlins erstes inklusives Ensemble: Hier machen Menschen mit Behinderung Musik

Das Utopia Orchester ist Berlins erstes inklusives Ensemble und will zeigen, dass auch Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich Musik machen.

Durch die Gänge schallt eine Arie von Puccini. Sopranistin Kristina Gordadze legt sich kräftig ins Zeug, begleitet wird sie von Viki Volovik am Klavier. Das Besondere: Die Pianistin kann keine Noten lesen. Sie hat sich diverse Aufnahmen dieser Musik angehört und auswendig gelernt. Denn Viki Volovik ist blind.

Jetzt proben beide in den Räumen des Stadtschlosses Moabit in der Rostocker Straße für den großen Abend am Dienstag. Dann, am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, wird das Utopia Orchester, dem die beiden angehören, mit einem Sinfoniekonzert in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg auftreten, bereits zum dritten Mal.

Hier spielen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Es ist Berlins erstes inklusives Orchester – und wahrscheinlich das einzige in Europa, wenn nicht weltweit. „Im Bereich der klassischen Musik ist inklusives Denken noch nicht sehr weit verbreitet“, sagt der Spanier Mariano Domingo, Gründer und Leiter von Utopia. Im Pop sieht es etwas anders aus, da gibt es zum Beispiel schon seit 1988 das Festival „Handiclap“ in Frankreich.

Zwei Konzerte waren voll besucht

Domingo, der in Madrid und Salzburg Klarinette und Dirigieren studiert hat und seit 2013 in Berlin lebt („hier existieren einfach mehr musikalische Möglichkeiten“), erzählt, er habe sich immer gewundert, warum in Orchestern so gut wie keine Musikerinnen und Musiker mit Behinderung auftreten.

[Konzert am Dienstag, 3. Dezember, 18 Uhr, in der Gethsemanekirche, Stargarder Straße 77. Die Kirche ist barrierefrei. Infos unter www.utopia.kulturleben-berlin.de. Besucher, die nicht mobil sind, sollen sich melden, dann können Plätze reserviert werden. Kontakt: Tel. 31 16 26 49 oder per Mail an utopia@kulturleben-berlin.de]

So wurde die Idee zum Projekt „Werkstatt Utopia“ geboren, das beim Verein Kulturleben Berlin angesiedelt ist und von der Aktion Mensch gefördert wird. Zwei Konzerte in der Heilig-Geist-Kirche in Moabit im Dezember 2018 und im Grips Theater im April 2019 waren voll besucht, auch viele Rollstullfahrende im Publikum.

Wie sieht der Probenalltag der rund 30 Mitglieder aus, die jede Woche zusammenkommen? „Sobald wir beginnen zu spielen, hat der Begriff Behinderung eigentlich keine Bedeutung mehr“, sagt Mariano Domingo. „Bei uns steht der musizierende Mensch im Vordergrund, und die Behinderung hat keinen Einfluss auf die musikalische Qualität. Ist der Kopf gesund, folgt der Körper.“

Einspringer stehen bereit

Ja, es gebe auch Mitglieder, die keine physische, sondern eine psychische Behinderung haben und es manchmal nicht zur Probe schaffen. Dann stehen Einspringer bereit. Die „Behinderung“ findet eigentlich eher im Vorfeld statt, bei der Suche nach geeigneten, barrierefreien Probe- und Auftrittsräumen. „Konzertsäle sind noch nicht wirklich inklusiv“, sagt Domingo.

Die meisten Mitglieder von Utopia sind musikalische Laien und gehen tagsüber anderen Berufen nach. Doch gehören auch ein Kontrabassist und eine Geigerin zum Orchester, die im Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt (Oder) und bei den Berliner Symphonikern spielen. Geld verdient niemand bei Utopia.

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Es geht um andere Dinge. „Hier kann sich jeder engagieren, mit seinen ganz spezifischen Fähigkeiten“, sagt Artak Kirakosyan. Der armenische Tenor sitzt seit 2008 im Rollstuhl, als ein Stahlgerüst auf der Bühne auf ihn niederstürzte. „Utopia ist auch ein soziales Projekt, eine Ermutigung, es soll anderen Menschen mit Behinderung zeigen: Das Leben ist nicht vorbei, es geht weiter.“

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Er tritt sonst im Kulturhaus Karlshorst, im Russischen Haus in der Friedrichstraße oder im Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf. Beim Konzert am Dienstag wird er als Solist zwei Arien interpretieren: Die des Lenski aus Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“ und die berühmte Arie „Ombra mai fu“ aus Händels „Serse“ („Xerxes“), in der der antike Perserkönig seine Liebe zu einem Baum besingt.

„People first“ bei der Programmzustellung

Bei der Programmzusammenstellung gilt für Mariano Domingo: „People first“. Soll heißen: Er denkt sich keine Dramaturgie aus und stülpt sie dann den Musikerinnen und Musikern über, sondern schaut sich genau an, was der- oder diejenige kann – und entwickelt daraus das Programm.

Wobei er auch dazulernt: In früheren Konzerten, erzählt er, ging es inhaltlich teilweise etwas arg durcheinander, weshalb er etwa den Jazz jetzt in einem separaten Projekt verfolgt. Neben den genannten Stücken sollen am Dienstag in Prenzlauer Berg auch Werke von Haydn, Beethoven, Bizet oder Léo Delibes erklingen, unter anderem interpretiert von dem erst 14-jährigen Pianisten Odric Aurelian.

Utopia will zeigen, dass ein inklusives Orchester ganz selbstverständlich sein kann. „Wir haben einfach tolle Musiker und Musikerinnen, und das wollen wir zeigen“, sagt Mariano Domingo.

Träume sind gerade deshalb natürlich nicht verboten. Tenor Artak Kirakosyan zum Beispiel hat einen großen: „Ich möchte mit diesem Orchester irgendwann in der Mailänder Scala auftreten.“

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