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Bernd Becking leitet die Geschäftsstellen der Bundesagentur für Arbeit in Berlin und Brandenburg.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlins Arbeitsagentur-Chef stellt klar: „Kurzarbeitergeld ist keine Liquiditätshilfe“

Nun ist es amtlich: Der Arbeitsmarkt ist auch in Berlin und Brandenburg gekippt. Bernd Becking, Chef der regionalen Arbeitsagentur, ordnet die neuen Zahlen ein.

Das neuartige Coronavirus hat den seit Jahren anhaltenden Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt auch in Berlin und Brandenburg gestoppt: Die Zahl der Arbeitslosen in der Hauptstadt ist im April deutlich auf knapp 183.000 gestiegen. Das waren 18,4 Prozent mehr als im März und sogar 22,7 Prozent mehr als im April des Vorjahres, wie die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit (BA) am Donnerstag mitteilte. In Brandenburg waren es zum selben Zeitpunkt gut 83.000 Arbeitslose. Ihre Zahl stieg etwas weniger stark um zehn Prozent im Vergleich zum März und um 8,4 Prozent verglichen mit dem Vorjahresmonat.

Die Arbeitslosenquote legte in Berlin damit im Vergleich zum März um 1,4 Punkte auf 9,3 Prozent zu. Nahezu jeder zehnte Berliner war damit arbeitslos gemeldet. In Brandenburg fiel der Anstieg weniger drastisch aus. Hier lag die Quote bei 6,2 Prozent und damit um 0,5 Punkte über dem Vormonat.

Das Instrument der Kurzarbeit, bei dem der Staat einen Großteil der Löhne fortzahlt und die Beschäftigten Stunden reduzieren, habe noch Schlimmeres verhindert, sagte Bernd Becking, Leiter der Regionaldirektion der BA der Nachrichtenagentur dpa. Anschließend gab er dem Tagesspiegel dieses telefonisch geführte Interview:

Herr Becking, warum steigt die Arbeitslosenquote in Berlin deutlich stärker als in Brandenburg?
Das liegt an der Struktur der Wirtschaft in den jeweiligen Ländern: Branchen wie Tourismus, Gastronomie, Hotellerie, eigentlich alle Dienstleistungen rund um Messe und Kongresse sind von der Krise besonders hart getroffen. Und diese sind stärker vertreten in Berlin. In Brandenburg haben wir mehr industrielle Produktion in Branchen, in denen Tarifverträge verbreiteter sind. Auch in Firmen rund um Lager und Logistik in Brandenburg wird weitergearbeitet – sogar verstärkt. Insgesamt ist Berlin – auch wegen der vielen Kreativen und Solo-Selbstständigen – härter getroffen als viele andere Bundesländer. Dienstleistungen als breite Erwerbstätigkeit werden jetzt zur Verletzlichkeit.

Warum steigt die Arbeitslosigkeit überhaupt merklich? Kurzarbeit sollte das doch verhindern.
Zuerst muss festgestellt werden: aktuell 30 Millionen Corona-bedingte arbeitslose US-Bürger sind eine Katastrophe und Warnung. Bei uns wirkt der Schutzschirm Kurzarbeit. Allein in Berlin haben 32.000 Unternehmen Kurzarbeit angezeigt. Es ist das deutliche Signal: wir wollen als Unternehmen Arbeits- und Fachkräfte halten und schnell starten können, wenn es wieder weitergeht, wie jetzt zum Beispiel im Handel. Wie viele der insgesamt 337.000 oder bundesweit rund zehn Millionen Menschen, die in diesen Firmen beschäftigt sind, tatsächlich kurzarbeiten, kann erst gesagt werden, wenn uns die Unternehmen ihre Erstattungsanträge vorgelegt haben. Dafür haben die Betriebe drei Monate Zeit.

Das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg. Derzeit findet Beratung nur telefonisch statt.
Das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg. Derzeit findet Beratung nur telefonisch statt.

© Jens Kalaene/dpa

Der steile Anstieg der Quote ist unter anderem damit zu erklären, weil Branchen, in denen viele Ungelernte arbeiten, sofort entlassen haben. Des Weiteren konnten viele Arbeitssuchende, die die Statistik entlasten, weil sie Qualifizierungsmaßnahmen absolvieren, diese plötzlich nicht mehr besuchen, weil die Bildungsträger – genau wie die Schulen – schließen mussten. Gerade das ist einzigartig und noch nie da gewesen.

Einige Unternehmen klagen, sie hätten noch kein Geld erhalten von der BA und seien wegen anstehender Gehaltszahlungen von Insolvenz bedroht. Warum geht das nicht schneller?
Kurzarbeit ist gesetzlich so geregelt, dass die Unternehmen in Vorleistung gehen. Sie müssen erst die Löhne und Gehälter auszahlen, den konkreten Anteil an Kurzarbeit individuell berechnen und den Antrag auf Erstattung inklusive Sozialbeiträge für den jeweiligen Monat stellen.

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Ich kann an dieser Stelle fest versichern, dass alle Anzeigen jetzt schon abgearbeitet sind und wir weniger als drei Wochen für die Auszahlung der Anträge benötigen – wenn der Antrag die gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllt. Dafür haben wir das Personal vervielfacht. Aber: Kurzarbeitergeld ist keine Liquiditätshilfe, auch wenn das zuweilen gedacht wird. Der Gesetzgeber will sicherstellen, dass das Geld dort ankommt, wo es zu landen hat, nämlich bei der Mitarbeiterschaft. Deshalb ist auch ein Vorschuss ausgeschlossen.

Was ist mit Unternehmen, die Kurzarbeitergeld beantragen, ihre Mitarbeiter aber voll arbeiten lassen?
Wir haben darüber bisher keine Erkenntnisse. Das wäre Betrug. Wir werden natürlich bei Verdachtsfällen mit dem Zoll prüfen, ob beim Kurzarbeitergeld alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Inwieweit bewahren die milliardenschwere Soforthilfeprogramme von Bund und Land Berlin Soloselbstständige tatsächlich vor einem Antrag auf Grundsicherung?
Die Gelder, die Bund und Land an diese Gruppe ausreichen, dienen der Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit. Und wir - konkret die Jobcenter - zahlen Lebenshaltungs- und Wohnkosten als Existenzsicherung, um die Menschen zum Beispiel gegen Mietschulden oder gar Wohnungsverlust abzusichern. Es ist eine großartige Leistung des Sozialstaates, dass wir dieses „soziale Bürgergeld“, wie man es auch nennen könnte, in diesen Zeiten schnell und derzeit ohne die sonst übliche Vermögensprüfung zahlen können. Man sollte die Grundsicherung nicht abwerten. Trotz der hohen Zahl von Anträgen bearbeiten die Jobcenter diese zurzeit in weniger als 15 Tagen.

Becking ist seit 2006 bei der Bundesagentur und leitet seit 2017 die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg. Zuvor war er Generalstabsoffizier bei der Bundeswehr.
Becking ist seit 2006 bei der Bundesagentur und leitet seit 2017 die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg. Zuvor war er Generalstabsoffizier bei der Bundeswehr.

© Doris Spiekermann-Klaas

Wie sind ihre Dienststellen im Gebiet der Regionaldirektion auf den zu erwarteten Anstieg der Anträge vorbereitet?
Unsere drei Berliner Agenturen und zwölf Jobcenter sind bei der personellen Arbeitsfähigkeit mindestens so gut aufgestellt wie vor Ausbruch der Pandemie. Wir haben sehr früh Schutzmaßnahmen umgesetzt und haben nur ganz wenige Erkrankte oder in Quarantäne. Wir arbeiten jetzt in einem erweiterten Arbeitszeitrahmen von 6 bis 22 Uhr und auf freiwilliger Basis auch an Wochenenden. Dafür haben wir unsere Homeoffice-Kapazitäten in der Krise massiv ausgeweitet. Alle sind zu Hause digital so arbeitsfähig wie im Büro.

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Unsere Garantien für schnelle Auszahlungen bei vollständigen Anträgen können wir auch nur deswegen halten, weil wir sehr gute technische Ausstattungen schon vor der Krise hatten und Personal aus anderen Bereichen zügig qualifiziert in den Top-Prioritäten Leistungsgewährung und Kurzarbeit konzentrierten. Andere Aufgaben wie Vermittlung oder Berufsberatung können derzeit nur sehr nachrangig geleistet werden.

Können Sie jetzt schon eine Lehre aus der Krise ziehen?
Wir sehen jetzt bereits, dass viele unserer Kunden mit uns den Kontakt über Telefon oder Online wünschen und dass das gut funktioniert. Das werden wir weiterentwickeln. Wir werden auch unsere digitalen Angebote zur Selbstinformation noch weiter ausbauen. Ich würde mir auch wünschen, dass wir mit anderen öffentlichen Verwaltungen oder den Schulen besser digital zum Nutzen der Menschen kooperieren könnten.

Die IHK fordert, es müsse Alles getan werden, um den Arbeitsmarkt wieder anzukurbeln. Was könnte das aus Ihrer Sicht sein?
Womöglich kann es am 6. Mai weitere Lockerungen geben. Dann wird die Wirtschaftstätigkeit wieder Fahrt aufnehmen, vielleicht sogar mit Einstellungen. Die Prämisse für all das ist aber: Gesundheitsschutz bleibt oberstes Gebot! Niemand kann ein Interesse daran haben, jetzt Lockerungen umzusetzen, die unvernünftig gelebt werden und der Lockdown erneut vollzogen werden müsste. Es liegt damit an jedem oder jeder einzelnen, mit vernünftigem Verhalten die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Arbeitsmarkt sich erholen kann.

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