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Klingende Kästen. Margot Wolf ist Schatzmeisterin im Verein der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin - und kurbelt auch selbst.

© DAVIDS/Sven Darmer

Berlins älteste Drehorgelspielerin: Mit 102 Jahren am Leierkasten

Margot Wolf ist die wahrscheinlich älteste Drehorgelspielerin der Welt. Vor mehr als 40 Jahren begann ihre Kurbel-Karriere auf dem Ku'damm.

Stolz sitzt sie neben Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann in der Kutsche und führt gemeinsam mit ihren Drehorgelfreunden aus der Schweiz den Festumzug auf dem Kurfürstendamm an. Hinter Margot Wolf laufen fast 150 Drehorgelfreunde. Aus ganz Europa waren sie am Wochenende gekommen, um sich zum 38. Internationalen Drehorgelfest in Berlin zu treffen. Fantasievoll gekleidet, drehten sie die Kurbel an ihren Leierkästen. Höhepunkt des Festumzugs war ihr Auftritt auf der Bühne vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Und da dürfte so mancher Festbesucher gestaunt haben, als er Margot Wolf die Kurbel drehen sah. Mit ihren 102 Jahren ist sie die wohl älteste Drehorgelspielerin der Welt.

„Ich kenne keine ältere“, sagt Wolf, die auch Schatzmeisterin der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin e.V. ist, und rückt ihren Hut mit der lilafarbenen Schleife zurecht. Exakt muss er sitzen, so wie ihr schwarzes Kostüm mit dem langen Rock und der weißen Spitzenbluse. Nicht nur wegen der vielen Festbesucher. Schließlich ist der Kurfürstendamm für sie ein ganz besonderer Ort: Hier begann für die zierliche alte Dame vor mehr als 40 Jahren ihre Geschichte an der Kurbel.

„Ist der Opa so arm, dass er Leierkasten spielen muss?“

Noch heute hat sie das Bild klar vor Augen, wie ihr Mann Richard auf dem Ku’damm stand und zum ersten Mal in seinem Leben Leierkasten spielte. Weil sein Freund Fritz, dem er ursprünglich das Instrument besorgt hatte, es nicht mehr haben wollte, fing er selbst zu spielen an. „Wie peinlich mir das war“, erinnert sich Margot Wolf. Und die Enkel fragten: „Ist der Opa so arm, dass er Leierkasten spielen muss?“

Die Drehorgel war historisch gesehen das Instrument der Straßenmusikanten, Gaukler und armen Leute. Wer seinen eigentlichen Beruf nicht mehr ausüben konnte, der fing das Drehorgelspielen an. Dies war besonders nach den Kriegen der Fall, als Versehrte sich damit ein Zubrot verdienten. So gab es in Berlin um die Wende des 19. Jahrhunderts rund 3000 Drehorgelspieler in den Zwanzigerjahren waren es noch 1000. Berlin, die Metropole des „guten alten Leierkastens“.

Nicht nur die Kinder waren begeistert. Selbst Wolfs Großvater ließ sich vom Klang des Leierkastens berühren. „Wenn er ‘Wo sind deine Haare, August, August?‘ hörte, hat mein Großvater einen Groschen eingewickelt und ihn in den Hof geworfen“, erinnert sich Wolf. Sie erzählt, wie sie als Kinder dem Drehorgelspieler von Hof zu Hof nachliefen und die Mutti mit dem Mittagessen auf sie warten musste, weil sich Margot nicht vom Spiel des Leierkastenmanns trennen konnte. Das größte aber war für die Kinder, wenn der Leierkastenmann fragte: „Wollt ihr auch mal spielen?“ und sie ein, zwei Mal die Kurbel drehen durften.

Ihre erste Drehorgel? Ein Geschenk ihres Mannes

Heutzutage dagegen sind Leierkastenmänner und -frauen rar geworden – nicht nur in Berlin. Dort spielen sie nur noch an touristischen Plätzen. Da hat sich Wolf noch nie als Solistin mit ihrer Drehorgel hin getraut. Sie spielt ausschließlich auf Drehorgelfesten und das nun schon seit 40 Jahren. Nachdem ihr Mann Richard an seinem Hobby festhielt, schenkte er auch seiner Frau einen Leierkasten. 1976 haben sie erstmals gemeinsam auf einem Drehorgelfest gespielt und auch nach dem Tod ihres Mannes hörte sie damit nicht auf. Im Gegenteil.

1987 gehörte sie zu den ersten Mitgliedern der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin. Diese haben sich zum Ziel gesetzt, nur band- und walzergesteuerte Drehorgeln zu spielen. Elektronisch gesteuerte sind für die rund 250 Mitglieder des Vereins nicht zugelassen. Da achtet Wolf so akribisch darauf, wie auf die Zahlen des Vereins. Bis zum heutigen Tage ist sie deren Schatzmeisterin. „Bei mir stimmt es bis auf den Cent“, sagt die gelernte Buchhalterin. Bis vor zehn Jahren machte sie die Buchführung noch alleine. „Dann habe ich mir einen jungen Mann gesucht, der etwas vom Computer versteht.“

Ihre Lieblingsorgel ist fast so alt wie sie

Nicht nur da holt sie sich Hilfe. Für ihre Vereinsfreunde ist es selbstverständlich, ihre 15 Kilo schwere Bacigalupo für Auftritte auf die Bühne zu hieven. So auch am Wochenende vor der Gedächtniskirche. Dort spielte sie wieder einmal ihr Lieblingslied, den Schneewalzer. Ihre Walzenorgel aus der Berliner Werkstatt, die mittlerweile ihren Betrieb eingestellt hat, ist mit 100 Jahren fast so alt wie sie.

Wolf hat auch schon einen Nachfolger für die Zeit, wenn sie nicht mehr die Kurbel drehen kann. Enkel Niklas hat sich von der Begeisterung seiner Oma anstecken lassen und ist seit drei Jahren Vereinsmitglied. Ein Lieblingsstück hat er noch nicht, aber genauso viel Taktgefühl und Verständnis für Musik wie seine Großmutter. „Und die muss man dafür schon haben“, meint sie.

Marion Brucker

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