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Kunst zum Anfassen. Von Rudolf Schlichters „Sitzender Jenny“ ist in der Berlinischen Galerie ein Relief ausgestellt.

© Berlinische Galerie

Berlinische Galerie: Blinde Besucher können mit Exponaten auf Tuchfühlung gehen

Anfassen erlaubt: Für die Ausstellung "Wien Berlin" wurden Exponate speziell für blinde Menschen aufbereitet. Das Konzept ermöglicht ihnen, vollkommen eigenständig durch die Ausstellung zu gehen.

Dirk Sorge liebt Kunst. Er hat an der UdK studiert und arbeitet selbst als bildender Künstler. Naturgemäß zieht es ihn regelmäßig in die Kunstmuseen der Stadt. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn der 29-Jährige nicht von Geburt an stark sehbehindert wäre. „Auch blinde und sehbehinderte Menschen haben Interesse an visueller Kunst – so paradox das für manch Sehenden klingen mag“, sagt Sorge. Er ist in die Berlinische Galerie gekommen, um die Ausstellung „Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen. Von Schiele bis Grosz“ zu besuchen.

Gerade fährt er einer Büste von William Wauer mit den Händen durchs Gesicht. Die Museumsmitarbeiter verziehen keine Miene, denn die Büste „Bildnis Herwarth Walden“ ist eines der speziell für sehbehinderte Besucher präparierten Ausstellungsstücke. Die Berlinische Galerie hat als eines der ersten Museen in Deutschland eine Sonderausstellung so aufbereitet, dass Blinde sie besuchen können, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein.

Bodenleitlinien und Raumpläne in Braille- und Großschrift ermöglichen die Orientierung in der Ausstellung, und ein spezieller Audioguide und Tastobjekte wie die Büste ermöglichen den sehgeschädigten Besuchern ihren ganz eigenen Zugang zu den Werken. Darüber hinaus sind einige Kunstwerke extra in Tastreliefs nachgebildet worden – so wie ein Gemälde von Gustav Klimt. Das Bild zeigt sein Modell Johanna Staude in einer bunt gemusterten Seidenbluse. Um den Hals trägt sie eine schwarze Federboa. Wie lässt sich ein solches Bild nun für blinde Besucher präsentieren?

In der Berlinischen Galerie haben sich die Ausstellungsmacher für einen Kasten mit drei Schubladen entschieden. In der ersten Lade findet sich ein Relief, anhand dessen man die Umrisse von Johanna Staudes Körper, Gesicht und Haaren ertasten kann. Die zweite Schublade enthält eine dreidimensionale Nachbildung des Musters von Johanna Staudes Bluse, während die dritte Schublade ein Stück Seidenstoff und eine Federboa birgt. Der Audioguide ermuntert die Besucher, alles zu berühren und sich gar die Federboa um den Hals zu legen.

Rudolf Schlichter, Sitzende Jenny, 1922/23.
Rudolf Schlichter, Sitzende Jenny, 1922/23.

© Berlinische Galerie

Zusätzlich bietet die Berlinische Galerie öffentliche Tastführungen für die Zielgruppe an. Hierfür sind die Mitarbeiter extra darauf vorbereitet worden. Museumsführer Dieter Wenk erinnert sich: „Die Schulung hat mir ein Gefühl dafür gegeben, was es heißt, blind zu sein. Wir wurden mit einer Spezialbrille quasi blind durch Teile der Räumlichkeit geschickt – allerdings am Arm eines Sehenden. Wir mussten uns dann gegenseitig Bilder oder Skulpturen beschreiben, was sehr ins Detail ging und eine echte Herausforderung war.“

Verein will Museumsangebote auch für Blinde zugänglich machen

Als Vertreter des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins (ABSV) war Dirk Sorge selbst an der barrierefreien Gestaltung der Ausstellung beteiligt. Seit mittlerweile 20 Jahren setzt sich der Verein dafür ein, Museumsangebote auch für blinde Menschen zugänglich zu machen. Trotzdem konnte noch nicht alles perfekt umgesetzt werden. Während Sorge mit der Präsentation der Objekte zufrieden ist, sei das Leitsystem auf dem Boden noch verbesserungsbedürftig. Ohne sehende Begleitung sei es sehr schwer, den Weg von einem Exponat zum nächsten zu finden.

Für die Macher war es das erste Mal, dass sie eine Ausstellung in in so umfassendem Maße barrierefrei aufbereitet haben. „Natürlich lernen wir noch dazu. Wir sind aber sehr stolz auf das, was wir erreicht haben“, sagt Susanne Kumar-Sinner, die Sprecherin der Berlinischen Galerie. Viele andere Verbände und Institutionen aus ganz Deutschland seien vorbeigekommen, um sich unsere Umsetzung anzuschauen. „Es wäre natürlich toll, wenn unser Konzept anderen zur Inspiration dient und Nachahmer findet.“

Michael Austermann, Gastprofessor für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik an der Humboldt-Universität, erinnert daran, dass Berlin in dieser Hinsicht privilegiert ist. „Man muss sich klarmachen, dass es in eher ländlichen Bereichen oft noch an adäquaten Angeboten für sehbehinderte Menschen fehlt“, sagt Austermann.

Aber auch in Berlin hat die Berlinische Galerie eine Vorreiterrolle. Die Häuser der Siftung Stadtmuseum Berlin bieten bisher nur in den Dauerausstellungen spezielle Führungen für sehgeschädigte Besucher an. Man sei aber bemüht, dieses Angebot schrittweise weiter auszubauen, sagt Pressesprecherin Anja Schulze

Künstler Dirk Sorge verweist in dem Zusammenhang auf die Rechtslage: „Wir wünschen uns, dass kulturelle Institutionen verstehen, dass Teilhabe am kulturellen Leben kein Luxus oder Akt der Gnade ist, sondern eine Selbstverständlichkeit und ein von den Vereinten Nationen anerkanntes verbindliches Menschenrecht – auch für Menschen mit Behinderung.“

Die Ausstellung „Wien Berlin ist noch bis zum 27. Januar in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Kreuzberg, zu sehen. Geöffnet ist Mittwoch bis Montag von 10 bis 18 Uhr, vom 22. bis 27. Januar sogar bis 22 Uhr. Die nächste öffentliche Tastführung findet am Montag, den 13. Januar, um 16 Uhr statt, Anmeldung erbeten möglichst bis heute unter der Telefonnummer 247 49 888.

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