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Die Berliner Unternehmen und Unternehmensverbände beobachteten den Wahlausgang der Europawahl am Sonntag ganz genau.

© Getty Images/iStockphoto

Berliner Wirtschaft nach der Europawahl: Zeit für Reformen

Nach der Europawahl drängen Berlins Wirtschaftsverbände Brüssel zum Neustart: Die Wirtschaftspolitik müsse überdacht werden.

Nein, für Berliner und Brandenburger Unternehmer kamen aus Brüssel in den vergangenen Monaten nur selten gute Nachrichten. Einerseits waren da die zähen, langwierigen Brexit-Verhandlungen, die Firmen aus Berlin und Brandenburg beschäftigten. Andererseits führte auch der Handelsstreit zwischen der EU und den USA zu Besorgnis in der Region. Kein Wunder also, dass man am Wochenende in den Firmen und Wirtschaftsverbänden den Verlauf der Europawahlen sehr genau beobachtet hat.

Etwa Markus Voigt, der Präsident des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI): „Erst einmal freue ich mich über die europaweit hohe Wahlbeteiligung und darüber, dass der vielfach prognostizierte massive Rechtsruck ausgeblieben ist“, sagt er. „Das zeigt: Europa lebt, die Europäische Union lebt. Das ist das vielleicht wichtigste Signal dieser Wahl und hat natürlich auch Einfluss auf unseren Standort, dessen aktuelle und zukünftige Erfolge auf einem Kontinent ohne Grenzen gründen.“

Voigt sieht angesichts der Wahlergebnisse allerdings auch Auswirkungen auf die Bundespolitik. „Klar ist aber auch: Die große Koalition im Bund ist vom Wähler massiv abgewatscht worden, insbesondere die SPD steht nun endgültig mit dem Rücken zur Wand.“ Da werde es – schon um des politischen Überlebens willen – Konsequenzen geben müssen, möglicherweise bis hin zum Bruch der Koalition, sagt Voigt. „Die Zeiten, in denen Deutschland politischer Stabilitätsanker in einem unruhigen Europa war, scheinen vorbei.“

Mit Blick auf die Berliner Wahlergebnisse müsse sich neben der SPD auch CDU und die Linkspartei hinterfragen, sagt Voigt. „Die Berliner Christdemokraten gewinnen nur noch Spandau und Reinickendorf, insgesamt schneiden sie in Berlin deutlich schlechter ab als bundesweit.“ Da sei eine Grundsatzdiskussion überfällig.

Klimadebatte war zentral für das Ergebnis der Europawahl

Und die Linkspartei? Deren Unterstützung für den Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne habe Wähler abgeschreckt, deutet Voigt das Ergebnis: „Offensichtlich hat der Enteignungspopulismus nicht verfangen, die Linken verlieren in Berlin deutlich.“ Den Grünen attestierte er hingegen, das politische Top-Thema Klimapolitik am glaubwürdigsten adressiert zu haben. „Dass sie auch die Enteignungsfahne schwenken, ist dabei unter den Tisch gefallen“, kritisiert Voigt hingegen.

"Lösungen in der Klimapolitik müssen auch die Wirtschaft voranbringen", sagt Christian Amsinck.
"Lösungen in der Klimapolitik müssen auch die Wirtschaft voranbringen", sagt Christian Amsinck.

© Mike Wolff

Auch Christian Amsinck, der Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB), glaubt, dass die Klimadebatte zentral für das Ergebnis der Europawahl war. „In der Politik stehen heute andere Themen als bislang im Vordergrund: etwa der Klimawandel, die Digitalisierung oder die Herausforderungen in der Außenpolitik“, sagt er dem Tagesspiegel. „Darauf erwarten die Menschen Antworten, auch in Berlin und Brandenburg.“

Wichtig sei nun, dass die Politik mit Augenmaß agiere. „Wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für die Unternehmen sind und bleiben die Grundlage für unseren Wohlstand. Lösungen in der Klimapolitik müssen auch die Wirtschaft voranbringen und dürfen nicht auf Kosten der Wertschöpfung gehen“, sagt Amsinck. Der Staat müsse dabei nicht nur seine Handlungsfähigkeit bei globalen Problemen wie dem Klima beweisen, sondern auch bei lokalen Themen vorankommen, etwa „beim Ausbau des Nahverkehrs, beim Wohnungsbau und bei der Modernisierung von Bildungssystem und Verwaltung“.

Auftakt für einen europaweiten wirtschaftspolitischen Dialog

Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Berlin (IHK), fordert seinerseits neue Ansätze für eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik, um die Märkte in den einzelnen Mitgliedstaaten zu stärken. „Die Berliner Wirtschaft profitiert vom EU-Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten wie von keiner zweiten wirtschaftlichen Integration weltweit“, sagt er.

„Als Zielmarkt von nahezu der Hälfte aller Berliner Exporte ist eine starke und stabile EU die Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstands.“ Die Europawahl müsse daher der Auftakt für eine Neuauflage eines europaweiten wirtschaftspolitischen Dialogs über die dringendsten EU-Handlungsfelder sein. „Dazu zählen der Brexit, die EU-Außen- und EU-Handelspolitik und der Bürokratieabbau.“

Gerade der Brexit hatte den Unternehmen in Berlin zuletzt Sorgen bereitet. In einer Umfrage der Handelskammer unter seinen Mitgliedern zu Jahresbeginn hatte mehr als jede dritte Firma angegeben, schlechtere Geschäftsbeziehungen im Zuge des Brexits zu erwarten. Besonders besorgniserregend sei die mangelnde Erfahrung vieler derzeit in Großbritannien tätiger Unternehmen im Handel mit Drittstaaten. Sollte es zu einem ungeregelten Ausstieg des Königreichs aus der Europäischen Union kommen, und die Gefahr dafür besteht weiterhin, wäre die Insel ein solcher Drittstaat.

Die EU darf sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen

Und gänzlich aus der Luft gegriffen sind die Befürchtungen nicht. Die IHK zählt insgesamt 120 Berliner Unternehmen mit Niederlassungen im Vereinigten Königreich und umgekehrt 70 Niederlassungen britischer Unternehmen in der deutschen Hauptstadt. 37.000 Beschäftigte seien für Berliner Firmen auf der Insel tätig, die britischen Unternehmen beschäftigen laut IHK in Berlin rund 13.000 Leute.

"Das oberste Gebot der Stunde ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU im internationalen Vergleich", sagt Jan Eder.
"Das oberste Gebot der Stunde ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU im internationalen Vergleich", sagt Jan Eder.

© Rainer Kurzeder/IHK

Doch nicht nur der Brexit bereitet sorge, IHK-Chef Eder warnt auch davor, dass sich die EU in der kommenden Legislaturperiode zu sehr mit sich selbst beschäftigen könnte: „Das oberste Gebot der Stunde ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU im internationalen Vergleich, damit wir nicht von den führenden Märkten in den USA oder China abgehängt werden.“

Berlin wird schrittweise weniger Fördermittel erhalten

Was europäische Finanzzuschüsse angeht, muss sich die deutsche Hauptstadt in den kommenden Jahren auf geringere Zuwendungen einstellen. Da die aktuelle EU-Förderperiode bis 2020 läuft, hatte die EU-Kommission bereits im Mai 2018 einen Vorschlag zum künftigen mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027 vorgelegt, hieß es bei der Investitionsbank Berlin (IBB) am Montag.

„Als Investitionsbank Berlin wissen wir, dass Berlin schrittweise weniger Fördermittel erhalten wird“, sagte IBB-Sprecher Jens Holtkamp. Aber: „Die Senatsverwaltung und die IBB sind unabhängig vom Wahlergebnis in engem Austausch mit den EU-Institutionen, um weiterhin Fördergelder für die Unternehmen in der Stadt zu akquirieren.“

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