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Bunter Oktober. Bäume im Wald der Revierförsterei Dachsberg in Zehlendorf.

© Thilo Rückeis

Berliner Wald: Lichtung und Wahrheit

Lärm, Stress, Chaos – unser Autor braucht eine Stadtpause. Er sucht Ruhe im Berliner Wald. Und findet eine Welt, die gar nicht ruhig ist – aber glücklich macht.

Früh am Morgen, in der S-Bahn um den Ring. Menschen dicht an dicht, ein Regenschirm drückt in den Rücken, ein Ellbogen rammt in den Bauch, der Reifen eines Fahrrads schmiert Dreck auf meine Hose. Rechts: Ein Baby schreit und schreit, die Mutter aber tätschelt ihr Smartphone. Links: eine rote Nase. Sie explodiert, Rotz fliegt durch die Luft, Schleimtropfen landen auf meinem Gesicht.

Voll! Die Stadt ist so voll! Menschen, Menschen, Menschen. Schüler, Bauarbeiter, Anzugträger. Einer kommt noch schnell mit seiner Zigarette in die Bahn, zieht dran, schnippst sie nach draußen und bläst mir anschließend den Rauch ins Gesicht. Ein anderer liest Zeitung: Anschlag in der Türkei, Pegida in Dresden, Flüchtlinge bei Minusgraden vor dem Lageso, entführtes Kind, Prozess um ermordete Schwangere.

Berlin, endlose Häuserschluchten, Abgase, Baustellen. Betrunkene vor Supermärkten. Junkies, die sich auf der Bahnhofsbank ihr Heroin über Alufolie erhitzen, Demonstrationen für und gegen bessere Welten, Prügeleien wegen eines falschen Blicks. Und immer wieder Warten. Warten, dass der Stau verschwindet. Warten, dass die Ringbahn fährt. Warten, dass es an der Kasse weitergeht. Warten auf einen Termin im Bürgeramt.

Aber es gibt eben auch diese schönen Herbsttage. Wenn die Sonne scheint, die Luft klar und kalt ist. Ein Genuss. Und dann erst die Bäume! In diesem Licht! Ihre Blätter, sie strahlen gelb und rot. Farbkompositionen, zum Weinen schön. Gedanken an früher: Warum werden die Blätter gelb? Weil es kalt geworden ist, hat mir mein Vater erklärt. Damals, vor 25 Jahren. Der starke Vater, der am Teufelssee mein Fahrrad stützte, bis ich selber fahren konnte. Der mit mir auf den Teufelsberg stieg, um Drachen fliegen zu lassen. Der mit mir das Kanu über den Wannsee steuerte. Im Herbst kommen die Erinnerungen.

29.000 Hektar voll mit Bäumen, Wiesen, Wildschweinen

Ich hatte es fast vergessen. Berlin hat richtige Natur, nicht nur Parks und das Flugfeld, Berlin hat sogar Wald. Der Bucher Forst, der Tegeler Forst, der Wald in Spandau und in Köpenick und der Grunewald. Hab ich einen ausgelassen? 29.000 Hektar voll mit Bäumen, Wiesen, Wildschweinen und bunten Blättern. Das sind 290 Quadratkilometer. Das sind etwa ein Drittel der Berliner Gesamtfläche, wenn man jene Wälder in Brandenburg dazuzählt, die noch dem Land Berlin gehören. Keine andere deutsche Großstadt kann das bieten.

Aber können die von Chaos zu Chaos taumelnden Berliner den Wald noch genießen, ihn hören, ihn riechen, ihn schmecken? Vögeln lauschen, Pilze finden, das Wildschwein unter den Büschen sehen? Weiß der Stadtmensch überhaupt noch, wie sie aussehen, die Buche, die Eiche, die Kiefer?

Ich höre die Entscheidung in mir fallen. Tschüss Computer, Schreibtisch, Termine und Schnickschnack. Tschüss volles Berlin. Ich fahre in den Herbstwald. Eine Woche lang. Morgens, wenn die anderen ins Büro müssen, biege ich ab ins bunte Paradies, ob Regen oder Sonne. Ich brauche das jetzt. Die Ruhe, die Abgeschiedenheit, ein Wanderer hier und da, und ansonsten: Ereignislosigkeit.

Tag 1 - Der Wald und lauter Bäume

Herrscher des Waldes. Andreas Constien, Leiter der Revierförsterei Dachsberg.
Herrscher des Waldes. Andreas Constien, Leiter der Revierförsterei Dachsberg.

© Thilo Rückeis

Das Reh mit dem gebrochenen Blick hängt an einem eisernen Haken. Die Spitze durchstößt das Weiche zwischen den Unterkiefern. Der Bauch ist von oben nach unten aufgeschlitzt und das hellrote Fleisch blitzt zwischen den Rippen. Der Magen, die Leber, die Galle liegen in einem Plastikeimer daneben. Schlachtfest in Zehlendorf, Försterei Dachsberg, mein erster Waldtag.

Armes Reh. Wie es da baumelt.

Gestern noch durfte es springen, mit seinen Freunden um die Wette rennen, und heute wurde es einfach abgeknallt.

„Haben Sie das geschossen?“, frage ich Andreas Constien. Ich versuche, neutral zu klingen. Doch der Förster durchschaut mich. Er kennt die Städter, die Fleisch klinisch abgepackt an der Theke kaufen und von nichts eine Ahnung haben. „Was glauben Sie, warum stößt Sie das ab?“, fragt er und fixiert mich. Weil es abscheulich ist, denke ich. Doch ich sage: „Weil ich es nicht gewohnt bin.“ „G-e-n-a-u“, dabei betont er jeden einzelnen Buchstaben. „Weil Sie es nicht gewohnt sind, verurteilen Sie die Jagd“, sagt er.

Wildschweine zum Beispiel, tolle Tiere, Förster Constien mag sie. Doch in seinem Revier sind es mehr als 120. Sie reißen alles auf, fressen alles an, das ist zu viel für seinen Wald, sagt er. „Ich stelle das Gleichgewicht wieder her.“ Dafür klettert er abends auf einen Baum, hängt sich mit einem mobilen Sitz an den Stamm, das Gewehr in der Hand, und wartet. Die Fledermäuse, die Käuze, sie ziehen unter ihm vorbei, späte Spaziergänger flanieren – und merken nicht, dass ein Förster im Baum hängt. Dann kommen die Wildschweine. Schnüffeln, Quieken, Grunzen. Dann: „Ein Schuss. Wie aus dem Nichts. Ein Loch und vorbei. Das Schlachthaus ist brutaler, die Natur auch."

Constien packt dem aufgeschlitzten Reh an die Kehle. „Da würde ein Wolf rangehen, das Reh wäre völlig zerfetzt.“ Constien packt den Nacken, „hier würde ein Luchs rangehen“. Der Wolf hetzt. Der Luchs lauert. Constien mag das: Geschichten erzählen. Auf die Folter spannen. „Ja“, sagt er und wird leiser, bis er flüstert: „Und der Mensch, der Mensch kommt mit dem Auto.“ Angefahren, nicht abgeschossen, wie ich gedacht habe. „Das arme Rehböckchen.“ Vorne auf dem Königsweg. Mitten in der Nacht. Constien hat Bereitschaft. Wenn es wieder ein Tier in seinem Revier erwischt, klingelt bei ihm das Telefon, er muss raus, es bergen.

Ein Bestimmer mit Dienstausweis, ein kleiner Herrscher des Waldes

Andreas Constien, 62, ist seit fast 30 Jahren Bestimmer über Baum und Wildschwein rund um Schlachtensee, Grunewaldsee und Krumme Lanke. Ein Bestimmer mit Dienstausweis, ein kleiner Herrscher des Waldes. „Wissen Sie, dass der Förster Polizeigewalt hat und Festnahmen machen kann?“ Constien hält seinen Försterausweis hoch. Stolz sieht er aus, wie er das macht.

Aber was soll in einem Stadtwald schon gefährlich sein? Constien schaut mich an. Dieser Städter, von nichts eine Ahnung. Er legt los, springt von einer Geschichte zur nächsten. Die illegale Waffenübergabe, die er gefilmt hat. Einschusslöcher auf einem Waldschild, von einer Maschinenpistole, wie er vermutet. Jugendliche, die mit Schreckschuss-Munition rumballern. Bauschrott, einfach ausgekippt – die Typen hat er rangekriegt. Hundebesitzer, aggressiv, unverschämt. Der große Hundekrieg um den Schlachtensee, den er und die Berliner Behörden erst mal gewonnen haben. Von einer Wildschweinattacke auf einen Wanderer, der danach halb verblutet am Wegesrand liegt.

Und Constien erzählt von zwei Toten, die er gefunden hat. Einen im See. Das war vor einem Jahr. Den anderen im Wald. In einem Zelt. Das war Konrad Seeger, der Waldmann. Einer, der es in der Stadt, zwischen den Menschen und Häusern nicht ausgehalten hat. Constien hatte ihn entdeckt und trotzdem jahrelang dort leben lassen. Auch wenn es gegen das Gesetz war. Auch wenn Vorgesetzte wollten, dass der Waldmann wegkommt. „Jeden anderen hätte ich fortgejagt. Doch ihn nicht. Der Mann hatte etwas, das habe ich geachtet“, sagt er. Jede Ecke hier hat Geschichte. Das alte Jagdschloss am Grunewaldsee. Die Asphaltstraße, auf denen die Panzer der Amerikaner von der Kaserne zum Übungsplatz gefahren sind, damals, als der Berliner Westen noch eingesperrt war.

Constien rast von Baum zu Baum, zeigt hierhin, zeigt dorthin, nach unten, oben, links, rechts. Er rennt vorne weg, ich keuche hinterher. Constien kommentiert, lacht und flucht über die Wildschweine: „Das Pack!“ Im nächsten Moment holt er sein Handy raus und zeigt ein Bild, wie er einen Frischling im Arm hält.

Prachtvolle Uniformen tragen Förster nicht mehr. Heute sehen sie eher aus wie eine grüne Mischung aus Polizei und Ordnungsamt. Doch Constien wird sogar in Zivil erkannt. Immer wieder grüßt er Jogger, Radfahrer und Hundeausführer, Familien und verliebte Pärchen. Ein Strom an Gesichtern, wie auf einer Einkaufsmeile. 100 Millionen Besucher pro Jahr hat der Grunewald laut Forstamt. Und dann ist der Grunewald vom Bund Deutscher Forstleute auch noch zum Waldgebiet des Jahres 2015 erklärt worden. Auf dem Hauptweg ist so viel los, dass ein Eichhörnchen erst nach links, dann nach rechts schaut, alles frei, jetzt hüpft es hinüber und verschwindet im nächsten Baum.

"Ich bestimme, ich gestalte. Ich bin ein Walddesigner"

„Sehen Sie die Verjüngung, die Durchmischung“, ruft Constien. Ich sehe Bäume. Manche haben glatte Haut. Andere haben Furchen. Sind dick, dünn, groß, klein, mit Nadeln, mit Blättern. „Früher war hier C-h-a-o-s. Ein Dschungel. Alles voll mit dieser Traubenkirsche, diesem Parasiten. Dann kam der Constien und hat d-u-r-c-h-g-e- f-o-r-s-t-e-t.“ Also gezielt Bäume gefällt, damit andere Platz zum Wachsen haben.

Die Bäume, bringen Geld. Als Brennholz, für Möbel, zum Bauen, als Futter für Energiekraftwerke. Deswegen heißt es auch Forstwirtschaft. 2013 arbeiteten 1,1 Millionen Menschen in Deutschland im Bereich „Forst und Holz“. Der Berliner Wald ist aber in erster Linie Erholungswald, auch wenn Bäume gefällt und verkauft werden.

Constien rennt weiter. „Die Kiefer da lasse ich noch mal 100 Jahre alt werden.“ „Die da muss weg, die ist ein Bedränger, die nimmt den anderen das Licht.“ „Da hinten lasse ich einen Buchenwald entstehen.“ „Der tote Baum bleibt für die Insekten.“ „Hier habe ich nach der Wende 50 Tannen hingestellt, als grüne Punkte im Winter.“ „Den Weg hier habe ich angelegt.“ Andreas Constien bleibt stehen. Endlich. „Das ist doch verrückt. Ich hinterlasse Spuren für die nächsten 100 Jahre. Ich bestimme, ich gestalte. Ich bin ein Walddesigner.“

Jagdbeute? Dieses Reh wurde tatsächlich überfahren.
Jagdbeute? Dieses Reh wurde tatsächlich überfahren.

© Thilo Rückeis

Und ich? Mit Constien komme ich so gar nicht zur Ruhe. Dafür lerne ich, den Wald zu lesen. Erkenne die Bäume. Sehe die abgeschnittenen Stämme. Eine der Kiefern hat eine große, ausufernde Krone. Sie hat Licht bekommen, ist schön gewachsen und dick geworden, weil Constien die Lichtwegnehmer und Wasserklauer drumherum abgeschnitten hat. Andere Kiefern stehen dicht an dicht, deswegen sind sie dünn und schnell nach oben gewachsen. Im Wald tobt ein Kampf um Ressourcen, die Pflanzen schenken sich nichts. Der Stärkere gewinnt, wer nichts abbekommt, kränkelt und stirbt.

Und ich lerne noch etwas vom Förster Constien: Am Berliner Wald ist nichts echt. Alles angelegt, alles geplant. Kein Baum wächst ohne Erlaubnis. Vor dem Krieg wurde gerodet, für die wahnsinnigen Eroberungspläne. Nach dem Krieg wurde auch gerodet, für die Alliierten als Reparation. Aber auch für die Öfen der frierenden Berliner. Für den Wiederaufbau. Der Berliner Wald verwandelte sich in eine Mondlandschaft. Deswegen mussten die Berliner Frauen nachpflanzen. Millionen Bäume, dicht an dicht, Reihe nach Reihe, der Pionierbaum Kiefer brachte den Wald zurück. Heute gestalten die Förster die so entstandene Monokultur wieder zu einem Mischwald um: Eiche, Buche, Birke, Linde, und eben die Kiefer. Weil es schöner aussieht und natürlicher ist. Außerdem halten die Laubbäume das Regenwasser besser im Boden, es verdunstet nicht so schnell wie bei den Nadelbäumen. Das wiederum ist einer der Effekte, die helfen sollen, den Berliner Wald auf den erwarteten Klimawandel einzustellen.

Tag 2 - Wie man in den Wald hineinruft...

Entspannt? Gespannt! Reporter Grünberg mitten im Grünen.
Entspannt? Gespannt! Reporter Grünberg mitten im Grünen.

© Selfie: Karl Grünberg

Echte Berliner Stadtkinder stehen vor einem echten Berliner Wald und trauen sich nicht rein. Dunkel ist es da drin, es knackt, ist nass, kalt und unheimlich. Misstrauisch schauen sie auf den Weg, der sich in den gefährlichen Bucher Forst schlängelt. Es ist die Klasse einer Förderschule. Die Mädchen tragen Rucksäcke mit Walt-Disney-Märchenfiguren, haben sich in dicke Jacken gemummelt, manche bibbern aber auch in viel zu dünnen Stoffturnschuhen und engen Leggings.

Sie dürfen, nein, sie sollen jetzt in den Wald rennen und schreien. Ungläubig schauen die 25 Kinder die beiden Waldpädagoginnen an, die vor der Gruppe stehen. „Echt jetzt?“ In den Wald laufen und laut sein? Zögerlich setzen sie ihre Füße vom Asphalt auf den feuchten Waldboden. „Ihh“, kreischt ein Mädchen und zeigt auf das Laub. Ein glänzender Mistkäfer. Doch dann rennt die erste los und die anderen zieht es hinterher, in den Wald, ins Abenteuer. Kein Auto, keine Ampel, keine Straße, keine Grenzen, einfach los.

Es sind Kinder, die zu unkonzentriert, zu zappelig, zu langsam sind für eine normale Grundschule, erklärt mir die Lehrerin. Manche von ihnen sprechen keinen geraden Satz oder verstehen nicht, wenn die Pädagogin Nadine Albrecht, 34, ihnen ein Spiel erklärt. Die Hälfte stand noch nie in einem Wald und ist noch nie auf einen Baum geklettert. „Das ist immer häufiger so“, sagt Nadine, die für eine Rucksackwaldschule arbeitet. Das ist eine mobile Version der Berliner Waldschulen, die zu den Berliner Forsten gehören und Stadtkindern den Wald, seine Pflanzen und Tiere, die Natur also, näherbringen sollen.

Ob Förderschule, Grundschule oder Kita: Jeden Tag sind Albrecht und ihre Kollegen unterwegs, jeden Tag mit anderen Kindern. Sie berichtet von einem Mädchen, dass nicht wusste, wie sie über einen Baumstamm steigen soll. Oder von Kindern, die es unheimlich finden, den Weg zu verlassen und im Wald herumzutoben, weil sie normalerweise ihre Eltern immer an der Seite haben. Von Kindern, die sich nicht dreckig machen sollen.

Albrecht entdeckt einen Baum, an dem die Rinde bis auf den Stamm abgeschabt ist und eine Schlammstelle davor. „Das ist eine Badewanne“, sagt sie zu den Kindern. „Was glaubt ihr, von wem?“ „Echt, eine Badewanne?“ „Ihh, wer badet denn im Schlamm?“ Die Kinder sind angeknipst. Sie fragen, sie überlegen, erkunden die Suhlstelle, finden Wildschweinhaare am Baumstamm. Sie melden sich, wollen was sagen. Sie pusten gefundene Sägespäne über den Waldboden, schauen, wo die Rehe schlafen, schleichen sich an eine Baumhöhle, in der ein Kauz lebt. „Wald verändert“, sagt Nadine Albrecht, „schon nach ein paar Stunden. Die Lauten und die Angeber werden leise, und die Leisen drehen auf und machen mit.“

Waldmeister. Hans Lippert, ehemaliger Förster, erklärt Städtern im Grunewald die Natur.
Waldmeister. Hans Lippert, ehemaliger Förster, erklärt Städtern im Grunewald die Natur.

© Karl Grünberg

Tag 3: Bäume umarmen

Sinnlich, so soll ich in den Wald gehen, hat Nadine Albrecht mir noch gesagt. Die Pädagogin, die schon als Kind jeden Tag mit dem Fahrrad in den Wald gefahren ist. Die eine Bürokarriere als Sozialversicherungsangestellte abgebrochen hat, um der Natur wieder nah zu sein.

Wald, ich soll dich nicht kategorisieren, nicht versuchen, dich zu lesen wie ein Bestimmungsbuch. Ich soll dich auf mich wirken lassen. Deine Grenzenlosigkeit, deine Freiheit. Ich soll dich hören. Geh in einen dichten Kiefernwald. Es knackt bei jedem Schritt. Die dünnen Bäume ächzen und knarren, wenn der Wind in die Äste fährt. Suche dir einen Baum, hat Nadine gesagt, sieh ihn dir an, verbinde dich mit ihm, erkenne seine Persönlichkeit, umarme ihn. Frage ihn: „Baum, wer bist du?“

Eine Gruppe Jogger hetzt vorbei. Die Männer keuchen, der Weg ist steil. Ich folge ihnen. Sie halten an, vor einem alten Haus, das mitten im Grunewald steht. Davor eine Jogger-Tränke mit fließendem Wasser. Die Sportler kommen, trinken, rennen weiter. Kaum einer sieht das dunkle, mit Ranken bewachsene Haus hinter den Nadelbäumen.

Die Pforte steht auf. Ich gehe rein. Links ein Hühnerschuppen, rechts das Haus, in der Mitte ein Durchgang in den Garten. Kinder jagen Hühner, Kinder sägen Holz, Erwachsene essen Kuchen und wärmen sich am Lagerfeuer. Astrid Lindgrens Bullerbü im Grunewald. Und mittendrin ein alter Mann. Er lacht, erzählt Geschichten, sonnt sich in der Aufmerksamkeit.

Über eine Million Bäume will er gepflanzt haben

Es ist Hans Lippert. Der Mann, der im Wald lebt. In die Stadt fährt er ungern. Nur, wenn es sein muss. Zum Arzt. Oder zum Einkaufen. Dann kann man ihn sehen, wie er mit steifen Bewegungen in die Pedalen seines Fahrrads tritt und sich langsam durch den Grunewald zur Bushaltestelle müht. Wenn er dann noch jeden Menschen grüßt, den er trifft, kann man sich sicher sein, es ist der alte Hans. Über eine Million Bäume will er gepflanzt haben, hier im Grunewald. Buch darüber hat er geführt, jedes Jahr. Damals, als der Grunewald kein Wald, sondern eine Steppe war.

Hans ist ein alter Waldarbeiter, der auch im Ruhestand im Forsthaus „Alte Saubucht“ wohnen bleiben durfte. Davor, in den 1950er Jahren, gehörte er zum deutschen Wachbataillon der US-Armee. Er stand mit Gewehr in der Hand und Helm auf dem Kopf vor dem Munitionsdepot oder der amerikanischen Abhörstation, die noch heute über dem Grunewald thront.

Heute strolcht er gern mit großen und kleinen Berlinern im Wald herum, erklärt ihnen die Zusammenhänge, reißt mit ihnen die spätblühenden, wie Unkraut wachsenden Traubenkirschen aus. Das macht er einfach so, weil es ihm Spaß macht, und weil das nahegelegene Ökowerk ihm immer wieder Familien und Gruppen sogar ganze Kindergeburtstage vorbeischickt. Er kann es einfach richtig gut, seinen Wald den Menschen schmackhaft machen.

Abends dann, wenn er wieder alleine ist und sein Tagwerk geschafft hat, hat er seinen Grunewald für sich. Er legt die Beine hoch. Streichelt seine beiden Katzen. Schaut in die Wipfel, sieht die Sonne untergehen, das Licht die Blätter umspielen und stellt fest, dass das Leben mitten im Wald mitten in der Stadt gut ist. Nicht einmal die Autobahn, die sonst ihr Dröhnen fast in alle Ecken des Grunewalds schickt, ist in der „Alten Saubucht“ zu hören.

Tag 4 - Ich glaub, ich steh im Wald

Giftig oder köstlich? Elisabeth Westphal leitet eine Pilzwanderung im Wald am Wandlitzsee.
Giftig oder köstlich? Elisabeth Westphal leitet eine Pilzwanderung im Wald am Wandlitzsee.

© Karl Grünberg

Wandlitz raus und auf zum Liepnitzsee. Ist zwar Brandenburg, der Wald gehört aber zu Berlin. Eine Besonderheit. Vor 100 Jahren besaß Berlin nur kleine verstreute Waldteile. Alle weiteren Flächen gehörten Preußen. Die Stadt wuchs und wuchs, Wohnraum wurde knapp, Land war begehrt. Um zu verhindern, dass Preußen seine Waldgebiete in Berlin an Immobilienhändler verkaufte und diese den Wald roden und darauf bauen ließen, kaufte die Stadt tausende Hektar, auch im heutigen Brandenburg, und machte sie zu einem Erholungswald für die Großstädter.

Oben wogen die gewaltigen Kronen der Buchen. Zwischen den Stämmen fühlt sich alles erhaben an, wie in einer Kirche, mit dem Blätterdach so weit weg, so nah am Himmel. Gleich daneben die engen Spaliere der Kiefern, man muss sich kleinmachen, um wie eine Maus zwischen ihnen hindurchzuhuschen. Eine Gruppe läuft vorüber. Es sind viele, eins, zwei, drei, 30 junge Leute, zwischen 16 und 35 Jahren. Vorneweg eine kleine Frau in Sandalen.

Es ist Elisabeth Westphal, die Meisterin der Pilze, Sachverständige der deutschen Pilzgesellschaft. Sie kennt den Unterschied zwischen genießbar, ungenießbar, giftig und tödlich. Sie und ihre Kollegen werden angerufen, wenn sich jemand mit Magenkrämpfen oder Lähmungserscheinungen ins Krankenhaus schleppt und die Ärzte nicht wissen, was sie machen sollen. „Unbedingt die Pilzreste aufheben, sonst kann ich nicht bestimmen!“, mahnt sie.

Pilze sind wie Menschen, sie haben unterschiedliche Charaktere

Dann schwärmen die Pilzwanderer aus. Berliner im Wald. Da sind die zwei Musiker aus Kreuzberg, der eine Schlagzeuger, der andere Bratscher. Für den Schlagzeuger ist es die dritte Pilzwanderung. Er will etwas anderes finden als immer nur Maronen und Steinpilze. Da ist der frisch aus Hamburg an den Kollwitzplatz gezogene Gutverdiener mit seiner Freundin. Warum in den Wald, Pilze suchen? Sie wissen es gar nicht genau, mal was anderes, Natur, Ruhe, Entspannung, raus aus der Stadt.

Elisabeth Westphal ist eine Finderin. Wie ein Adler, der nach Beute späht, ruckt ihr Kopf in alle Richtungen. Wo andere nur auf den Boden starren, scannt sie den ganzen Wald. Wo ist es feucht, wo ist Licht, welche Bäume stehen hier. Pilze sind Geflecht, das sich durch den Erdboden zieht, von einem Ende des Waldes zum anderen. Was aus dem Boden kommt, sind nur die Fruchtkörper. Pilzen kann man beim Wachsen zuschauen, an einem Vormittag nur drängen sie durch das Moos und breiten ihre Kappe aus.

„Pilze sind wie Menschen, sie haben unterschiedliche Charaktere. Ein Steinpilz ist massiv, fest, stabil. Die Täublinge sind brüchig und vielseitig“, sagt Westphal. Mehr noch als die Pilze und Kräuter, die sie sammelt, über die sie so viel weiß, liebt sie die verschiedenen Stimmungen im Wald: nach Hitze, nach Regen, nach Frost.

Die Sucher kommen zurück, stellen sich im Kreis um die kleine Frau und halten ihr einen Pilz nach dem anderen hin. Westphal schmeckt, riecht, kratzt am Stamm, prüft die Farbe. „Essbar. Ungenießbar. Giftig. Tödlich“. Sie erkennt sie alle.

„Los, weiter“, ruft sie, „ich kenne einen toten Baum, da finden wir garantiert ein paar Austernseitlinge.“ Und weg ist die Gruppe. Zurück bleibt ein leicht würziger Pilzgeruch und ein Wald, der wieder einfach nur knarzt, ächzt und rauscht, zufrieden und geruhsam.

Wo Maschinen nicht hinkommen. Das Rückepferd "Volker" und ein Waldarbeiter entfernen Traubenkirschen im Wald der Revierförsterei Dreilinden.
Wo Maschinen nicht hinkommen. Das Rückepferd "Volker" und ein Waldarbeiter entfernen Traubenkirschen im Wald der Revierförsterei Dreilinden.

© Thilo Rückeis

Tag 5: Ein Baum fällt schneller, als er wächst

Eine Motorsäge fräst sich durch den Stamm. Der Lärm bricht die Stille. Noch steht der Baum, mehr als 30 Meter hoch, mehr als 100 Jahre alt. Schön ist er, mit seinen ausladenden Ästen, voller Kraft und Leben. Noch. Zentimeter um Zentimeter frisst sich die Motorsäge tiefer. Schnitte nach unten, Wurzelanlauf weg, eine Kerbe in die Seite, es knackt und splittert. Der Baum neigt sich. Der Baum fällt. Der Baum kracht auf den Boden.

Donner. Die Erde bebt. Dann ist es still.

Peter Dietrich legt die Motorsäge auf den gefällten Baum, schiebt das Visier seines Helmes hoch, und zeigt sein Gesicht: Bart, freundliche Augen, Grinsen. „Schaun Se“, er zeigt auf die Mitte des Stammes. „Dort ist es faul, darum musste der weg.“ Er wühlt mit seinen Handschuhen dunkles, zersetztes Holzmehl hervor. Ob ihm die Bäume nicht leidtun, frage ich, der Städter. Ihn, der seit 1985 im Job und Berlins bester Baumfäller ist, wie seine Kollegen sagen. „Doch, schon“, sagt Dietrich. Wenn der Baum sehr alt ist oder besonders schön. Doch wenn er weg soll, dann muss er eben weg.

Ich bin im Revier Dreilinden, unterhalb des Wannsees. Dietrichs Chef, Förster Heinrich Kiso, und seine drei Trupps fällen faule Bäume, sägen die spätblühende Traubenkirsche ab und reißen ihre Wurzeln aus. Mit dieser Kirsche ist es so eine Sache. Aus Amerika importiert, weil sie schön aussieht und von den Rehen nicht angenagt wird. Doch weil Schatten ihr nichts ausmacht, sie sich gut anpassen kann, breitete sie sich aus und verdrängte die anderen jungen Bäume. Also ist man seit Jahrzehnten dabei, die Traubenkirsche aus den Berliner Forsten wieder herauszuholen.

Zehn Prozent der Flächen bleiben unberührt

Die Wurzeln rausreißen, das machen zwei stämmige Pferde. Es sind Rückepferde, kaum noch im Einsatz, weil Maschinen in der Forstwirtschaft die Arbeit erledigen. Doch hier im Grunewald sind sie noch unterwegs und gehen dahin, wo Maschinen nicht hinkönnen oder sollen. Der Berliner Forst wird nach den Kriterien von Naturland und des Forest Stewardship Council (FSC) betrieben. Das bedeutet: Zehn Prozent der Flächen bleiben unberührt. Es werden nur noch einzelne Bäume gefällt, der Kahlschlag von früher ist abgeschafft worden. Der Mischwald wird ausgebaut, und neue junge Bäume werden nicht mehr gepflanzt, sondern sollen natürlich entstehen. Abgestorbene Bäume bleiben stehen, darin leben Insekten und Käfer, die wiederum von Vögeln gegessen werden, Stichwort Artenschutz.

Wenn im Herbst die Bäume im Forst fallen, wenn es aussieht wie in einem Katastrophenfilm, beschweren sich viele Berliner. Rufen im Forstamt an und schütten ihren Frust über die empfundene Zerstörung der Natur aus. Dann muss Förster Kiso erklären: Wir machen das für die Sicherheit auf den Wegen. Dafür, dass junge Bäume nachwachsen können und sich der Wald durchmischt. Außerdem ist Holz eine natürliche, nachwachsende Ressource, die wir brauchen.

Ich hätte dennoch fast heulen können, als der Baum auf den Boden schlug, 100 Jahre gewachsen und dann einfach gefällt, in nicht einmal zehn Minuten. Ich gehe weiter, leise und in mich gekehrt.

Ich biege auf den Mauerweg ein und durchquere den ehemaligen Grenzstreifen. Wo früher Türme standen und Todeszonen Fliehende abhalten sollten, hat Förster Heinrich Kiso eine idyllische, verwunschene Park- und Waldlandschaft angelegt. Es sieht aus wie beim Hobbit Bilbo Beutlin im Auenland. Tief einatmen. Tief ausatmen. Ein langgezogenes „Ach, wie schön“. Wald ist zwar, das weiß ich jetzt, mitnichten ereignislos, macht aber trotzdem glücklich. Mich zumindest. Ich habe einen Baum umarmt. Habe alle Sinne aktiviert, habe Rehe und ein Wildschwein gesehen – und Menschen kennengelernt, die anders ticken als ich, der Stadtmensch. Mit neuer Kraft fahre ich zurück, den Wald im Herzen, Eicheln und Kastanien in den Taschen. Jedes Mal, wenn die Stadt mir zu voll wird, nehme ich sie in die Hand.

Dieser Text erschien zuerst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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