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Afghanische Frauen auf einer Demonstration in Berlin.

© Björn Kietzmann

Berliner Verein für psychosoziale Arbeit schlägt Alarm: Massive Re-Traumatisierungen afghanischer Flüchtlinge

Der Berliner Verein Xenion, der seit Jahren traumatisierte Menschen betreut, fordert mehr Mittel und Personal für die akute Situation Geflüchteter

Die Re-Traumatisierungen von geflüchteten Menschen aus Afghanistan durch die aktuellen Ereignisse und die Machtübernahme der Taliban sind aus Sicht von Experten massiv. Janina Meyeringh, Psychotherapeutin beim Berliner Verein Xenion, der sich seit vielen Jahren um traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene kümmert, sagt vor allem im Hinblick auf Frauen: „Es ist erschütternd, den vielen jungen Frauen und Mädchen gegenüber zu sitzen, die nicht aufhören können, um ihr Land, die Frauen und Mädchen vor Ort, zu weinen.“

"Sie wissen nicht mehr, wofür sie kämpfen sollen"

Grundsätzlich sei die Situation für alle Flüchtlinge schwierig, besonders aber für die Mädchen und Frauen, weil von einem Tag auf den anderen die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben und ein stabiles, demokratisches Afghanistan zerstört worden sei. „Dafür haben sich viele dieser Frauen selbst eingesetzt und ihr Leben riskiert“, sagt die Psychotherapeutin.

Es sei schwer aushaltbar mitanzusehen, wie Jugendliche, die schrecklichste von Menschenhand gemachte Traumata überlebt und bewältigt haben, „aktuell wieder zusammenbrechen, nicht mehr wissen, wofür sie kämpfen sollen".

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In Berlin werden besonders Schutzbedürftige Menschen aus Kriegs- oder Krisengebieten über das Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS) an verschiedene Träger übermittelt, die psychosoziale Arbeit machen. Xenion besteht seit 1986 als psychosoziales Behandlungszentrum für traumatisierte Geflüchtete und ist einer der Träger.

Zurzeit sind rund 350 Flüchtlinge über die Luftbrücke aus Afghanistan über Frankfurt am Main nach Berlin gebracht worden, wo sie in verschiedenen Unterkünften untergebracht sind. Für diese Menschen bietet etwa die gemeinnützige Organisation Ipso sowie weitere Akteure niedrigschwellige psychosoziale Angebote in den Unterkünften, etwa Gesprächskreise an, weil viele Betroffene ein großes Bedürfnis haben, in einem geschützten Raum über ihre Erlebnisse oder Gefühle zu sprechen.

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Auch Xenion hat kurzfristig verschiedene psychosoziale Angebote, wie psychosoziale Gruppen etabliert; Schwerpunkt ist jedoch die langfristige ganzheitliche Arbeit mit traumatisierten Menschen. Bei akut traumatisierten Personen kann das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) auf die Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Transkulturelle Psychiatrie von Vivantes zurückgreifen, das bereits im Ankunftsprozess eingebunden ist und dort die psychosoziale Erstdiagnostik- und Verweisbereitung macht; bei Bedarf stehen im ZTP auch 15 stationäre Plätze zur Verfügung.

"Die Nachfrage an psychologischer Hilfe kann noch steigen"

Die bezirklichen Kontakt- und Beratungsstellen (KBS) sind zudem ein tragender Pfeiler in der ergänzenden ambulante Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Krisen. Seit 2016 wurden die zwölf Beratungsstellen durch 24 zusätzliche Fachkräfte (von rund 16 Trägern) ergänzt, die kultursensibel und mehrsprachig arbeiten, vor allem arabisch- und farsisprachige Psycholog:innen. Die Anbindung an diese Stellen erfolgt durch die Sozialarbeitenden der Unterkunft. Monika Hebbinghaus, Sprecherin im LAF sagte: "Häufig treten psychische Probleme erst dann auf, wenn jemand zur Ruhe gekommen ist und die akute Gefahr vorüber ist. Die Nachfrage nach psychologischer Hilfe könnte also in den nächsten Wochen und Monaten noch steigen."

Janina Meyeringh und ihre Kolleg:innen erlebten in den Wochen seit dem Fall Kabuls eine „massive Verschlechterung“ der psychischen Gesundheit von vielen Afghan:innen in Berlin. Viele haben Angehörige in Kabul, die jetzt auf der Flucht vor den Taliban sind. Diese Menschen in Berlin haben „unermessliche Ängste um ihre Familien“, sagt Meyeringh.

"Der Sicherheitsverlust dieser Menschen ist immens"

Unter den Geflüchteten gibt es auch eine Reihe von politisch aktiven Frauenrechtlerinnen, die sich sowohl in Afghanistan als auch in Berlin für ein demokratisches Afghanistan eingesetzt haben. Mindestens von einer Familie ist bekannt, dass die Taliban Angehörige in Afghanistan aufgesucht und zusammengeschlagen haben, um Informationen über Frauen im Land oder in Deutschland zu erpressen.

„Der Sicherheitsverlust dieser Menschen ist immens, und damit steigt die Angst ins Unermessliche“, sagt Janina Meyeringh. Deshalb appelliert Xenion an die Politik, mehr Mittel für Personal für die akute Betreuung zur Verfügung zu stellen. Denn der sprunghaft gestiegene Bedarf nach psychosozialer Unterstützung werde sich aus Sicht von Xenion „lange hinziehen“, sei aber schon jetzt „aus den Ressourcen und Kräften unserer sozialarbeiterischen und therapeutischen Angeboten nicht mehr zu stemmen“.

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