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Glänzt wieder. In der Großen Hamburger Straße erinnern Stolpersteine unter anderem an Elli und Rosa Scheller.

© Theo Heimann

Update

Berliner Stolpersteine: Gedenken an die Pogromnacht 1938 mit Putztuch und Polierpaste

Zur Erinnerung an die Pogromnacht vor 75 Jahren wurden in Berlin Stolpersteine gereinigt - auch Günther Jauch packte mit an. In der Sophiengemeinde hat dies eine lange Tradition.

In neun Jahren kann Messing ziemlich viel Patina ansetzen, zumal draußen auf der Straße, von Regen, Schnee und wer weiß von was noch allem regelmäßig eingenässt. Neun Jahre, in denen Passanten achtlos oder unabsichtlich darüber hinwegschlurften, Kratzer hinterließen, bis das anfangs golden glänzende Viereck sich mehr und mehr seiner Umgebung anpasste. Eine langsam dunkler werdende Erinnerung an „Johanna David, Jg. 1919, deportiert 1941, ermordet in Lodz“, ehemals wohnhaft in der Joachimstraße 2 in Mitte. Ein „Stolperstein“ auf dem Weg zum normalen Straßenpflaster.

Da hilft nur niederknien, die Flasche mit dem Metallputzmittel, den Lappen zur Hand nehmen und reiben. Mal rechts, mal links rum – ein hartnäckiger Fall, hier hat wohl noch niemand zuvor geputzt. Gut 20 Minuten, dann glänzt der Stein wieder, nur das mitgebrachte Windlicht erweist sich als unbrauchbar: Zu viel Wind.

Eine der vielen kleinen Akte von Erinnerungsarbeit, die am Sonnabend, zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, in Berlin stattfanden. Nicht allein stilles Gedenken, Andacht oder Schweigezug, sondern handfeste Arbeit im Kleinen, konkretes Einschreiten gegen das Vergessen, mit Messingpolitur und Lappen. In diesem Fall verteilt von Pfarrerin Christina-Maria Bammel und Helferinnen, im Vorraum der Sophienkirche in der Großen Hamburger Straße.

Vormittags um zehn hatten sich Konfirmanden der Gemeinde versammelt, auch einige Gemeindemitglieder und Anwohner – manche mit Putzsachen versehen, aber an sich war dafür vorgesorgt. Später sollte es um die zur selben Gemeinde gehörende Zionskirche weitergehen, rund 180 Stolpersteine im Kiez zwischen Scheunen- und Brunnenviertel waren zu reinigen – auf einer Liste notiert, ausgeschnitten und den Putzwilligen zugeteilt.

Zum Beispiel an Idan Wachtel, Anton Kurek und Richardt Jörgensen, alle 13 Jahre alt, die beiden ersten Sophien-Konfirmanden, der dritte mit ihnen befreundet und Schüler am nahen Jüdischen Gymnasium. Die ersten Steine hatten sie fix geputzt, holten sich bald neue Namen. Über die Pogromnacht wissen sie gut Bescheid: die jüdischen Geschäfte verwüstet, die Synagogen angezündet, viele Menschen ermordet. Und Richardt weiß auch, dass die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße die Nacht weitgehend ohne Schaden überstanden hat, weil ein Polizeibeamter einschritt.

Erinnerungsarbeit als Mahnung für die Gegenwart

Waren die drei Jungen durch den Konfirmandenunterricht informiert, hatte die 77-jährige Ute von Halasz erst am Vorabend durch einen Flyer an der Tür ihres Wohnhauses davon erfahren und sofort beschlossen mitzumachen. Sie lebte schon während der NS-Zeit in Berlin. Ihre Eltern hätten einige Juden versteckt, erzählt sie. Gesehen hat sie die nicht, aber ihre Anwesenheit gespürt: „Seitdem weiß ich: Kinder merken alles.“ Für sie ist die Erinnerungsarbeit mit Lappen und Putzmittel zugleich Mahnung für die Gegenwart. Der alte Antisemitismus sei nicht verschwunden, sondern ersetzt worden – durch den Hass auf andere Minderheiten.

Auch Günther Jauch packt mit Wischtuch und Politur mit an.
Auch Günther Jauch packt mit Wischtuch und Politur mit an.

© dpa

Auch die kleinen Töchter der Pfarrerin, die siebenjährige Ann-Magdalena und die achtjährige Marie, drängten aus der Kirche zum Steineputzen, begleitet von ihrem Vater Karsten Bammel. Ein Theaterstück, das in der Sophienkirche anlässlich der 300-Jahr-Feier aufgeführt wurde, hatte sie neugierig gemacht. Auch das Schicksal einer jüdischen Familie war Teil der Handlung, ein schwarzes Tuch, unter der eines der Mitglieder verschwand, symbolisierte die Ermordung, übrig blieb nur noch ein Stolperstein.

Aber wie erklärt man kleinen Mädchen den Holocaust? Man habe ihnen von den jüdischen Nachbarn erzählt, die vor 80 Jahren noch Tür an Tür mit den Nichtjuden lebten, dann aber vertrieben und ermordet wurden, berichtete ihr Vater und musste dann los: Die Töchter wollten zu ihren Steinen.

In seiner Rede schlägt Wolfgang Thierse eine Brücke zum Heute

„Unglaublich schnell“ sei man fertig geworden, berichtete Pfarrerin Bammel am Nachmittag zufrieden. Im nächsten Jahr will sie mit ihrer Gemeinde wieder dabei sein, mit noch besseren Listen von Stolpersteinen.

Das Gedenken an die Pogromnacht hat in ihrer protestantischen Gemeinde eine lange Tradition, die weit in die Zeit vor der Wende hineinreicht, berichtet Jugenddiakon Andreas Schulz. Der lange vorbereitete Tag laufe immer nach bestimmtem Muster ab, mit einer Rede, die die Brücke zum Heute schlägt, als Höhepunkt, diesmal vom ehemaligen Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse. Das Putzen der Stolpersteine sei dann erst im vorigen Jahr dazugekommen.

Aus einen Gefühl der Verantwortung heraus sei dies entstanden, sagt Andreas Schulz, und verweist zugleich auf die lange Tradition der Großen Hamburger Straße, die im Volksmund früher „Toleranzstraße“ genannt wurde. Evangelische und katholische Christen lebten hier mit Juden jahrhundertelang friedlich nebeneinander.

Nicht weit von der Kirche befindet sich die frühere Jüdische Knabenschule, das heutige Gymnasium. Gleich daneben lag das Jüdische Altersheim, das ab 1942 von der Geheimen Staatspolizei als Sammellager für Juden genutzt wurde, samt dem Jüdischen Friedhof, der bei Kriegsende als Begräbnisstätte für die zahllosen Toten dieser Wochen, darunter den Gestapo-Chef Heinrich Müller, genutzt wurde. Etwa 55 000 Menschen wurden durch das Sammellager in Mitte durchgeschleust und später von den Nationalsozialisten in verschiedenen Konzentrationslagern ermordet.

Zur Erinnerung an die Pogrome veranstaltete die Jüdische Gemeinde zu Berlin am Samstagabend ein Gedenken im Gemeindehaus an der Fasanenstraße. Es sprachen der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und der Botschafter Israels, Yakov Hadas-Handelsman

Auch die 22-jährige Johanna David muss wohl im KZ ermordet worden sein. Sie wurde am 18. Oktober 1941 gleich mit dem ersten Transport aus Berlin deportiert und verließ ihre Heimatstadt vom Bahnhof Grunewald aus zusammen mit 1012 anderen Menschen.

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