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Berliner Stadtgeschichte: Rote Insel: Neben der Tradition

Widerstand, Nein sagen, das können sie auf der Roten Insel in Schöneberg. Früher zum Kaiser, zu den Nazis, heute zu Investoren. Doch neulich haben sie den ersten Porsche gesehen.

Ein bisschen rot soll die Insel noch leuchten, zweimal im Monat wenigstens, deshalb sind sie wieder über die Brücken und Gleise gekommen, aus Friedenau und anderen Teilen Schönebergs. Elf sind sie an diesem Abend, genug, um eine Rednerliste zu führen, Iran ist heute das Diskussionsthema.

Als die Schlagwörter „Kriegstreiber“ und „politische Mobilisierung“ durch die Luft fliegen, ist dieses Hinterzimmer bestimmt der röteste Punkt der Insel. Die DKP, die Deutsche Kommunistische Partei, trifft sich turnusmäßig in der Eckkneipe „Harmonie“.

Es ist kein schlechter Abend für die DKP. Zwei neue Mitglieder, einstimmig aufgenommen. Jetzt sind sie 23 im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Eine Anwohnerin raunt ehrfürchtig: „Wir haben hier noch echte Kommunisten.“

Nach zweieinhalb Stunden Sitzung verlassen die meisten die Insel wieder. Zurück bleibt als eine der wenigen Lisa Emmerich, 34, Taxifahrerin, schwarze Klamotten, rot und schwarz gefärbte Haare, sie wohnt seit fünf Jahren hier. „Ich habe Angst um diesen Kiez“, sagt sie. Davor, dass die Insel überflutet werde von der wohlhabenden Bürgerlichkeit der umliegenden Viertel, vom Akazienkiez auf der einen Seite und dem Bergmannkiez auf der anderen. Dass alles saniert und teuer werde, die Selbstverwirklichung einziehe und das Nachbarschaftliche verdrängt werde.

Hier: Das ist das Gebiet zwischen Cherusker- und Naumannstraße, das viele Schöneberger Insel nennen, obwohl es die Rote Insel ist. Und die ist längst grün. Bei der vergangenen Bundestagswahl wurden die Grünen mit 35 Prozent mit Abstand die stärkste Partei. Die DKP bekam in drei Wahllokalen der Insel zwei Stimmen. Taxifahrerin Emmerich gibt sich weiterhin kämpferisch: „Wenn sich irgendwelche Regierenden hier ihren Masterplan von der Metropole des 21. Jahrhunderts verwirklichen wollen“, sagt sie, „wird sich zeigen, wie viel Widerstandswillen hier wirklich ist.“

Denn der Widerstand – das ist die Geschichte der Insel. Widerstand gegen die Obrigkeit, früher gegen den Kaiser, gegen die Nazis, jetzt gegen Großprojekte.

Die Rote Insel hat ihren Ruf zu verteidigen und ihren Inselstatus, den sie den Gleisen zu verdanken hat, die sich um sie gelegt haben. Gleise von drei Bahnlinien, der Potsdamer Bahn, der Anhalter Bahn und als letzter der Ringbahn, das war 1877. Auf einmal lag dort mitten im Häusermeer ein abgeschlossenes Gebiet in Form eines Tortenstücks, zu erreichen nur über Brücken und Gleise. Das Militär stationierte sich dort bis zum Ersten Weltkrieg, ein Eisenbahnbataillon, Logistik ist wichtig beim Kriegführen.

Hinkommen und Wegkommen ist auf der Insel ständig Thema. Die S-Bahn umfährt die Insel heute von allen Seiten. Welche Insel außer Jim Knopfs Lummerland hat schon so viele Schienen und Bahnhöfe, mit Südkreuz einen der größten Berlins und mit Julius-Leber-Brücke den jüngsten S-Bahnhof? Und mittendrin Häuser und ruhiges Wohnen. Durchgangsverkehr gibt es kaum. Viele Familien sind hierhergezogen in die im Krieg kaum zerstörten Altbauten, es gibt Spielplätze und Kindergärten, die „Sonneninsel“ heißen oder „Inselkinder“.

Die Straßen der Insel liegen ein bisschen trotzig da, ungekämmt, als hätten sie es nicht nötig, sich herauszuputzen. Kleine Betriebe werkeln vor sich hin und zeigen, dass hier Arbeit mit den Händen noch geschätzt wird. Die Insel scheint sich nicht entscheiden zu wollen zwischen den Zeiten, es gibt schon den metropolenhaften Bioladen, die „BioInsel“, und eine „Mehlmanufaktur“, im Restaurant „Seidls“ kann man Zander kross gebraten mit rotem Mangold und Orangengnocchi für Achtzehnfünfzig bestellen. Nur ein paar Ecken weiter bietet eine Kneipe das große Pils vom Fass für zwei Euro an. Die berühmteste Tochter des Inselvolks ging ebenfalls zwischen den Welten hin und her, Berlin, Amerika, Paris, zwei Tafeln an ihrem Geburtshaus Leberstraße 65 erinnern an Marlene Dietrich. Und mitten auf der Insel ragt die evangelische Königin-Luise-Gedächtnis-Kirche empor, die Begrünung verleiht ihr etwas Verwunschenes. Sieben Türen hat die runde Kirche, als finde man immer zu Gott, aus welcher Richtung man auch kommt.

Gisela Wenzel bietet gelegentlich Touren durch das Viertel an, eine Frau mit wachen Augen, 66 Jahre alt, Politologin. Für die Geschichtswerkstatt hat sie ein Buch über die Rote Insel mitgeschrieben. In den 80er Jahren hatte sie mit Recherchen darüber angefangen, wie das Leben in Berliner Kiezen aussah, als Deutschland braun wurde. In einer alten Zeitung stieß sie auch auf den Gründungsmythos der Insel: Kaiser Wilhelm I. kam nach längerer Kur zurück nach Berlin, in einen Wald aus schwarz-weiß-roten Fahnen. Ein Bierhändler jedoch hisste die Rote Fahne. Er wurde des Landes verwiesen und die Insel hatte ihren Namen. Dem sie treu blieb, auch in den 30ern. „Aus der Bevölkerung gab es starken Widerstand gegen die Nazis“, sagt Gisela Wenzel. „Wenn die SA durchmarschiert ist, sind die Blumentöppe runtergeflogen.“ Und erzählt wird auch, dass manche SA-Leute an den Brücken ihre Uniform ausgezogen hätten, bevor sie auf die Insel zu ihren Wohnungen gelaufen sind.

Sozialdemokraten und Kommunisten wollten verhindern, dass Nationalsozialisten sich auf der Insel einmieteten. Kommunisten gaben die Häuserblockzeitung „Die Rote Insel“ heraus. Nach 1933 überzogen die Nazis die Insel jedoch mit Terror und drängten den Widerstand zurück. Julius Leber hatte eine Kohlenhandlung in der Torgauer Straße. Vorne wurden Kohlen verkauft, im Hinterzimmer Pläne gemacht. Wichtige deutsche Widerstandskämpfer trafen sich dort, Leber gehörte zum Umfeld der Attentäter des 20. Juli. Im Januar 1945 wurde er hingerichtet. Eine Brücke, ein S-Bahnhof und eine Straße auf der Insel tragen heute seinen Namen.

In den 70er Jahren sollte eine Autobahn die Insel durchschneiden, die sogenannte Westtangente. Mobilität über alles. Doch die Bürger wehrten sich. Die Autobahn stoppte am Sachsendamm, ihr Ende verwuchert dort. Und auch jetzt fühlen sich manche wieder bedroht von einem Großprojekt.

Es geht um nichts weniger als um den Leuchtturm. Jede Insel braucht einen Leuchtturm. Ihrer leuchtet nachts mit seinen roten Lichtern bis weit in andere Bezirke. 78 Meter hoch, 419 Stufen, denkmalgeschützt. Der Gasometer. Vor 100 Jahren wurde er fertiggestellt. Eine Bürgerinitiative hat sich nach ihm benannt, sie will das Lebensgefühl in ihrem Kiez erhalten und auch den Gasometer. Sie haben sich von denen beraten lassen, die einst die Westtangente verhindert haben, und für Gisela Wenzel ist das nur ein Indiz, dass die Geschichte der Insel weitergeht. „Man eignet sich den Mythos der Roten Insel bewusst an.“

Den Gasometer haben die Mitglieder der Bürgerinitiative auch im Blick, als sie sich eines lauen Abends auf der Terrasse des Nachbarschaftsheims in der Cheruskerstraße zur Lagebesprechung treffen. Sieben Leute, zwei Flaschen Wein. Manchmal kommen auch welche aus der DKP dazu. Es gehe schließlich um ein Großprojekt und dessen ungefähre Gefahren, findet Norun Speckmann, die DKP-Gruppenvorsitzende.

Ein Investor, der Architekt Reinhard Müller, hat das 60 000 Quadratmeter große Gelände gekauft. Er will in das Gasometer-Gerippe ein Glasgebäude hineinbauen und darin das Energieforum, kurz Euref, unterbringen. Das soll hier entwickeln, forschen, kommunizieren, und wenn das abends erledigt ist und die Energie am Ende, können sich alle Gäste in ein Hotel zum Schlafen legen.

Früher hätten die, die jetzt gegen den Umbau protestieren, vielleicht den Gasometer gehasst. Denn die Gasanstalt nebenan bedeutete Explosionsgefahr und Dreck und giftige Luft. Außerdem hob und senkte sich das Innenleben des Gasometers wie eine Bauchdecke beim schweren Atmen, je nachdem, wie viel Gas sich gerade im Behälter befand. Heute steht nur noch die Stahlhülle, 1995 wurde er stillgelegt, das Gas wird sowieso längst importiert und unter der Erde gespeichert, nicht mehr aufwändig aus Kohle hergestellt. Aus der Industrie ist ein Denkmal geworden, und die Hülle schließt jetzt vor allem Romantik ein.

Christiane Heiß aus der Bürgerinitiative sagt: „Der Gasometer hat sein Eigenleben. Bei stürmischen Winden fängt er an zu singen. Die Stare versammeln sich dort, bevor sie nach Süden fliegen. Die Sonne geht spektakulär unter hinter dem Stahlgerippe.“ Doch „die größte private Einzelbaumaßnahme Berlins für die nächsten fünf Jahre“, wie der Investor für das Forum wirbt, soll insgesamt 15 Gebäude umfassen, das höchste ursprünglich bis zu 75 Meter. Für Berliner Verhältnisse fast schon ein Wolkenkratzer, und die Anwohner fürchten, dass sie die Sonne nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Reinhard Müller möchte derzeit keine Fragen zu seinen Plänen beantworten. Vielleicht ist er misstrauisch, weil der „Spiegel“ sein Projekt ein „Lehrstück im politischen Lobbyismus“ nannte und Fotos druckte, auf denen Müller seinen Kopf gegen Politiker aus aller Welt neigt.

Die Bürgerinitiative, laut Selbstauskunft 20 aktive Mitglieder und 200 Namen im Postverteiler stark, hat sich jedenfalls auf ihn eingeschossen. Sie würde ihre Insel am liebsten unter Artenschutz stellen. Wenig Hochhäuser, viel Lebensgefühl, kein Kerngebiet, sondern Insel, darauf haben sie sich als Minimalziele verständigt. „Man ist drin und trotzdem zugleich draußen. Selbst in einem kleinen Dorf in Westdeutschland ist es lauter als hier“, sagt Thomas Ogger, sein Mitstreiter Alexander Ziemann erklärt: „Es ist gemütlich, nichts Elitäres.“ Neulich habe er zum ersten Mal einen Porsche auf der Insel gesehen. Und Heike Trobisch sagt: „Hier laufen nur die Leute rum, die hier wohnen, es gibt eigentlich keinen Grund für Fremde, hierherzukommen.“ Das Vertrauen in den Investor erschüttert zu haben, das halten sie für ihre bisher größte Leistung. Und dass immer noch nicht viel passiert sei auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks.

Aber ob sie etwas aufhalten oder gar verhindern können? Der Baustadtrat von Tempelhof-Schöneberg, Bernd Krömer, fängt in seinem Amtszimmer im Rathaus Schöneberg an zu lächeln, ein wenig spöttisch, ein wenig nachsichtig. „Bei ihrer angekündigten Großdemo sind nur sieben Leute gekommen“, sagt er. Es gebe immer Menschen, die Angst vor Veränderungen hätten, aber die Veränderungen würden kommen, und Angst brauche keiner haben, die Insel bleibe die Insel, aus ruhigen Straßen würden doch keine Flaniermeilen. „Wir arbeiten jetzt an der Planreife“, sagt Krömer über das Euref, „entgegen aller Mutmaßungen geht es gut voran.“ Es gehe um mehrere Hundert Arbeitsplätze, und der neue Gasometer „wird eines Tags eine Zierde des Bezirks sein“, sagt Krömer, der selbst viele Jahre auf der Insel gewohnt hat. Von 75 Metern geplanter Bauhöhe sind inzwischen allerdings nur noch 55 übrig geblieben. Man könne einem Investor schließlich nicht jeden Wunsch erfüllen, sagt Krömer.

Wenn das Projekt also verwirklicht werden sollte, müssen sich die Insulaner auf eine weitere Tugend besinnen, die wichtig ist für das Leben auf Inseln: auf engem Raum Gegensätze auszuhalten.

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