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Mitglieder der "Hells Angels" (Symbolfoto) sollen 2014 den Rocker Tahir Ö. ermordet haben.

© picture alliance / dpa

Berliner Rockerprozess: Der Staat darf Mord nicht ermöglichen

Die Polizei wusste offenbar, dass ein Mensch sterben sollte – und griff nicht ein. Das ist für den Rechtsstaat verheerend. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Alexander Fröhlich

Beamte legen einen Diensteid ab. Sie geloben, dass sie ihr Amt getreu dem Grundgesetz ausüben. Und dort ist zu lesen: Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu schützen Pflicht aller staatlichen Gewalt. Denn jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In Berlin haben Beamte des Landeskriminalamts gegen diese Pflicht offenbar verstoßen. Weil sie ein Leben nicht geschützt, keine Maßnahmen ergriffen haben, sondern 2014 einen Mord billigend in Kauf genommen haben sollen – um einen kriminellen Rockerboss dingfest zu machen. So jedenfalls hat es das Landgericht in dem laufenden Mordprozess in einem vorläufigen rechtlichen Hinweis festgestellt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Fehler und Versagen im Berliner Landeskriminalamt Menschenleben kosten. Das geschah auch 2016 beim Umgang mit dem späteren Attentäter Anis Amri, der zwölf Menschen getötet und Dutzende verletzt hat. Bei Amri wurden Zeichen nicht erkannt, es wurde geschlampt – auch wegen der Arbeitsüberlastung, weil es zu wenig Personal gab, was Polizeiführung und Politik wussten.

Die Gefährdungslage wurde falsch eingeschätzt

Bei den Ermittlern für organisierte Kriminalität, die den im Januar 2014 verübten Mord an einem 26-Jährigen hätten verhindern können, aber nichts getan haben, waren die Zeichen unübersehbar: Die konkreten Mordpläne waren bekannt. Wochenlang. Die Polizei wäre gezwungen gewesen, einzugreifen, das Leben des potenziellen Opfers zu schützen. Genau das hat sie nicht getan – um sich hinterher eine Ermittlungstrophäe anzuheften? Weil man das Leben des Mannes für weniger schützenswert hielt?

Die Gefährdungslage wurde falsch eingeschätzt, wie die Polizei schon damals, Wochen nach dem Mord, erklärte. Konsequenzen für Beamte gab es keine, Disziplinarverfahren wurden eingestellt, Ermittlungen wegen Totschlag durch Unterlassen gar nicht erst aufgenommen. Erst jetzt, vier Jahre später, weil ein Gericht Verstöße festgestellt hat, rollt die Berliner Staatsanwaltschaft den Fall neu auf.

Der Staat darf einen Mord nicht ermöglichen. Das gilt – erschreckend genug, dass man darauf hinweisen muss – für alle Menschen, unabhängig davon, ob sie selbst kriminell sein könnten. Das Landgericht Berlin sieht zwar nicht, dass die Polizei die tödlichen Schüsse in dem Reinickendorfer Wettbüro provoziert habe, aber es sieht einen klaren Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wie er in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt ist. Hinzu kommt der Hinweis des Landgerichts, dass die Angeklagten, deren kriminelle Machenschaften die Polizei unterbinden wollte, nun sogar mit einem Nachlass bei den zu vollstreckenden Haftjahren rechnen könnten.

Die Tragweite des Berliner Rockermords von 2014 ist für den Rechtsstaat fatal. Die Polizei hat die im Grundgesetz geschützten höchsten individuellen Rechtsgüter nicht verteidigt: die Menschenwürde und den Schutz von Leib und Leben. Damit trägt sie dazu bei, dass das Vertrauen in den Kernbestand staatlichen Handelns, der Schutz der Bürger und die dafür legitime Gewaltanwendung, erodiert. Oder was sollen Bürger, die der Polizei vertrauen, von all dem halten? Eines müssen die Chefs der zuständigen Verfassungsressorts, Inneres und Justiz, endlich begreifen: In Berlin werden die Grundfesten des Rechtsstaates erschüttert – durch ihn selbst.

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