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In der Weddinger Wiesenstraße eröffnete 1896 der Berliner Asylverein sein Wohnheim für Obdachlose.

© Kai-Uwe Heinrich

Berliner Obdachlosenhilfe: Abends Suppe, morgens Schrippe

Vor rund 150 Jahren entstanden die ersten Berliner Obdachlosenasyle. Finanziert wurde sie von reichen Vertretern des liberalen Bürgertums.

Rieke Busch, das Weddinger Kellerkind aus Hans Falladas Roman „Ein Mann will nach oben“, wohnte der alten Wiesenburg direkt „vis à vis“, war also bestens vertraut mit dem Ort, „wo die Penna und die Stroma schlafen, wenn se sonst keene Bleibe haben“. 1941 wurden diese Zeilen geschrieben, die Szene spielt allerdings um einiges früher, als das 1896 eröffnete Heim des „Berliner Asylvereins für Obdachlose“ in der Wiesenstraße 55 gerade erst ein paar Jahre alt war.

Eine ehemals berühmte Sozialeinrichtung, Vorgänger der zahlreichen Unterkünfte, die Obdachlosen heute angeboten werden, den Hangar 4 des Flughafens Tempelhof eingeschlossen. Doch die Wiesenburg, wie der Volksmund sie nannte, war keineswegs die erste dieser Einrichtungen, deren Berliner Geschichte vor 150 Jahren begann.

Das genaue Datum liegt in den Tiefen der Archive verborgen, recherchiert man im Internet, stößt man auf widersprüchliche Angaben. So verzeichnet das historische Stadtlexikon luise-berlin.de für den 3. Januar 1868: „Das erste Obdachlosenasyl in Berlin öffnet seine Pforten. Es diente der Unterbringung wohnungsloser Frauen.“

Die Eintragung für den 3. Januar 1869 klingt sehr ähnlich: „Der ,Friedrich Werdersche Bezirksverein’ eröffnet ein erstes provisorisches Mädchen- und Frauenasyl mit 60 Betten in der Wilhelmstraße/Ecke Dorotheenstraße (Mitte).

Der erste und einzige Gast in dieser Nacht war ein 18-jähriges Dienstmädchen.“ Für diese Einrichtung, untergekommen in einer alten Artilleriewerkstatt, findet man als Eröffnungstermin aber auch den 7. Dezember 1868, als erstes Haus des Berliner Asylvereins.

Gründungstag 30. November 1868

Verbürgt ist immerhin als dessen Gründungstag der 30. November 1868, möglicherweise ist er ja aus dem alten Verein hervorgegangen, was das Durcheinander teilweise erklären würde. Fünf Jahre später folgte ein Männerasyl in der Büschingstraße. Angesichts der massiven sozialen Probleme in der Kaiserzeit erwiesen sich diese Angebote als unzureichend, ein Neubau musste her.

Da war es günstig, dass die Vereinsmitglieder keineswegs minderbemittelte Philanthropen , sondern in ihren Reihen viele durch Geld oder Rang herausragende, oft jüdische Mitglieder des liberalen Bürgertums waren. Der Industrielle August Borsig gehörte ebenso dazu wie der Arzt Rudolf Virchow oder der Fabrikant und SPD-Vorsitzende Paul Singer. Den Vorsitz hatte der Bankier Gustav Thölde.

Es war also nicht der Staat, der den Ärmsten der Armen die Hand bot. Vielmehr ging die Initiative von privaten Kreisen aus, aus sozialem Verantwortungsgefühl und wohl auch aus dem Bestreben, den negativen Auswirkungen des Kapitalismus entgegenzuwirken und sozialen Sprengstoff zu entschärfen.

Schlafräume mit 50 Betten

Eröffnet wurde die an einer Privatstraße gelegene Wiesenburg zunächst als Asyl für 700 Männer, das 1907 um eines für 400 Frauen erweitert wurde. Es gab Schlafräume mit je 50 Betten, Wasch-, Bade- und Desinfektionsräume, dazu einen Trakt mit Wasserturm, Kesselhaus und Dampfmaschinen für Heizung, Strom- und Warmwasser. Die Benutzung war gratis, abends wurde Suppe mit Brot gereicht, morgens Kaffee mit Schrippe. Anonymität der Schlafgäste war garantiert, die Polizei hatte keinen Zutritt.

Bis in die zwanziger Jahre stand die Wiesenburg Obdachlosen offen, zuletzt von der Jüdischen Gemeinde betrieben. 1945 wurde die Anlage durch Bomben weitgehend zerstört. Das Gelände blieb sich selbst überlassen, genutzt auch als bizarre Kulisse für Filmaufnahmen, das ehemalige Beamtenhaus immerhin noch von Mietern bewohnt.

Mittlerweile aber steht die Wiesenburg unter Denkmalschutz, wurde 2014 der Wohnungsgesellschaft Degewo übergeben. Das Areal soll saniert und um einen Neubau mit 100 Wohnungen ergänzt werden. Auch die Ateliers und Kunstwerkstätten, die sich dort angesiedelt haben, sowie der als „Kulturstelle“ auftretende Verein „Die Wiesenburg“ sollen blieben, man hat sich offenbar geeinigt. Mit der Ruhe in diesem Winkel der Stadt ist es freilich vorerst vorbei.

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