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Kinderarzt Dr. Martin Karsten in seiner Praxis.

© Thilo Rückeis

Berliner Kinderarzt zur Erkältungszeit: „Erst ist das Kind krank, dann stirbt der Opa“

Wie überstehen Familien die Erkältungszeit? Ein Gespräch über panische Eltern, ständiges Fiebermessen und die falsche Angst vor dem Impfen.

Mit dem Herbst beginnt auch die Erkältungszeit. Für Eltern von Kita- und Grundschulkindern stets eine belastende Phase. Der Berliner Kinderarzt Martin Karsten erklärt im Interview, wie man sich am besten wappnen kann.

Was können Familien tun, um im Winter nicht dauerhaft krank zu sein?
Viel Obst und Gemüse essen und sich möglichst viel an der frischen Luft bewegen – das stärkt das Immunsystem. Wer im Spätsommer noch viel in der Sonne war, hat es richtig gemacht. Vitamin D ist ein guter Schutzfaktor vor Erkältungen. Nicht sinnvoll ist es, sich mit anderen Kindern in engen Räumen aufzuhalten. Dort steckt man sich schnell an. Besser ist es, sich weiterhin viel draußen zu bewegen, als in der Wohnung Fern zu sehen.

Wann beginnt bei Ihnen in der Praxis die Hauptsaison?
Erkältungszeit ist wie Winterreifenzeit - von Oktober bis Ostern. Temperaturen von vier bis fünf Grad und Schmierregen bieten den Viren ideale Bedingungen. Ab Dezember habe ich deutlich mehr Patienten. Zu diesem Zeitpunkt steht die Sonne schon seit zwei Monaten deutlich tiefer. Die Kinder sind geschwächt. Bei Weihnachtsfeiern, Weihnachtsmärkten und wo viele Menschen zusammenkommen, können sich die Viren untereinander austauschen. Hinzu kommen Stressfaktoren: Geschenke, Hektik, all das trägt dazu bei, dass das Immunsystem runterfährt. Inzisur ist der Januar. Nach Weihnachten ist es in meiner Praxis immer ein paar Wochen ganz ruhig und dann geht es wieder los bis zum Frühjahr.

Warum ist im Januar weniger los?
Das habe ich mich zu Beginn meiner kinderärztlichen Tätigkeit auch gefragt. Als ich vor fast 30 Jahren mit meiner Praxis angefangen habe, hat mich das im ersten Jahr sehr verwundert. Die ersten Jahre als junger Kinderarzt ist man ja noch sehr aufgeregt. Damals war also vor Weihnachten die Praxis dauerhaft voll und im Januar war plötzlich nichts mehr los. Da dachte ich, ich habe irgendetwas falsch gemacht, bis ich gemerkt habe, das ist einfach so. In den zwei Wochen Weihnachtsferien werden die meisten Leute wieder gesund. Kindergärten, Schulen, Betriebe haben zu. Der ganze enge Austausch fällt weg. Das hält bis Mitte Januar, doch dann kommt die kalte Jahreszeit mit den Influenzaviren, also der echten Grippe, gegen die man sich aber impfen lassen kann.

Welchen Familienmitgliedern empfehlen Sie die Grippeimpfung?
Ich empfehle das besonders den kleinen Kindern, die im Kindergarten sind und den chronisch Kranken. Sie bringen die Grippe in die Familie. Wir können das bei uns im Haus verfolgen. Unter mir sitzt mein Bruder als Allgemeinarzt. Einen Monat bevor die Erwachsenen die Grippe bekommen, stellen wir eine Zunahme der Erkrankung bei Kindern fest. Die Kinder haben engen Kontakt in den Kindergärten. Kinder scheiden die Grippeviren wochenlang danach noch aus. Wir haben teilweise folgende Szenarien hier: Ein Kind hat die Grippe, die Mutter bleibt zu Hause, um auf das Kind aufzupassen, dann ist das Kind zwar wieder gesund, aber die Mutter kann nicht arbeiten, weil sie sich auch angesteckt hat, dann wird der Vater krank, die Oma wird zur Hilfe geholt, die Oma hat den Opa im Schlepptau, der gerade eine Herz-OP hinter sich hat, der Opa stirbt am Ende daran. Diesen Fall hatte ich so ähnlich im letzten Jahr dreimal.
Ein tragischer Vorfall. Ist es trotzdem sinnvoll, ausgerechnet die ganz Kleinen zu impfen? Man sagt doch, dass Kinder auch Infekte durchmachen müssen, um das Immunsystem aufzubauen.
Aber ein Kind muss keine schlimmen Infekte oder Kinderkrankheiten bekommen, um ein starkes Immunsystem zu entwickeln. Man muss nicht heute krank sein, um später gesund zu sein. Sein Immunsystem kann man auch anders trainieren. Bei Kindern hilft es, wenn sie viel draußen spielen, zum Beispiel im Wald mit Erde in Kontakt kommen. Lieber einfach mal durch den Grunewald spazieren, als mit Fieber im Bett liegen.

Es heißt doch eigentlich, dass sich nur chronisch kranke, alte und schwache Menschen impfen lassen sollen.
Das ist die offizielle Version. Aber wenn sie einen Infektiologen auf Kongressen fragen, wird er Ihnen auch empfehlen, am besten die Kinder zu impfen. Sie werden als erstes krank. Und ein Kind, das den Winter über die ganze Zeit hustet oder Schnupfen hat, ist im Prinzip ja auch chronisch krank. Ich sage den Eltern, die ihr Kind mit einem Jahr in die Kita geben immer, ihr Kind wird jetzt drei Jahre lang krank sein. On top setzen sich dann auf die kleinen Infekte auch noch die ganz schlimmen Viren drauf. Also besser impfen lassen.

Und wer aus der Familie sollte sich außerdem impfen lassen?
Alle Großeltern, die babysitten unbedingt. Und Eltern, wenn sie chronisch krank sind. Im Prinzip sagt man, alle über 60-Jährigen und Leute, die viel Menschenkontakt haben, außerdem alle chronisch Kranken.

Wann ist der beste Zeitpunkt dafür?
Im Oktober, also am besten jetzt sofort. Jetzt ist die Jahreszeit vor den Erkältungskrankheiten. Die Impfung hilft auch gegen die Grippe assoziierten Krankheiten und ist außerdem die beste Prophylaxe gegen einen Herzinfarkt.

Wer momentan zum Kinderarzt geht, bekommt in der Regel die Meningokokken-B-Impfung empfohlen. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt diese noch nicht, nicht alle Kassen übernehmen die Kosten. Wie wichtig ist diese Impfung?
Meningokokken B ist der Worst Case eines Kinderarztes. Jeder Kinderarzt, der fieberhafte Kinder sieht, hat das im Hinterkopf. Einmal habe ich es erlebt, dass ein Kind daran gestorben ist, zum Glück nur ein einziges Mal, aber das vergisst man nicht. Ein Drittel der infizierten Kinder sterben daran. Die Meningokokken tricksen unser Immunsystem aus, sie vermehren sich und unser Körper tut nichts dagegen. Das Risiko daran zu erkranken, ist allerdings in den ersten zwei Lebensjahren am höchsten. Deshalb: Wenn man impfen möchte, sollte man es gleich machen, frühestens ab drei Monaten. Es ist eine ziemlich teure Impfung, aber wenn man nachfragt, übernehmen viele Kassen die Kosten. Die STIKO empfiehlt diese Impfung übrigens nur nicht, weil nicht sicher ist, ob sie ein Leben lang wirkt.

Es ist aber noch eine Impfung und den Spruch „unsere Gesellschaft ist überimpft“ hört man jetzt schon regelmäßig. Wie überzeugen Sie Mütter und Väter, die ihre Kinder prinzipiell nicht impfen möchten?
Ich habe manchmal impfskeptische Eltern bei mir in der Praxis, die zum Beispiel Angst davor haben, die ganz Kleinen zu impfen. Aber das frühe Impfen ist sinnvoll, weil Säuglinge am meisten gefährdet sind. Je früher man impft, desto besser wird eine Impfung vertragen. Meine Erfahrung ist, wenn ein Arzt nett mit den Leuten umgeht, bauen sie Vertrauen auf und impfen lieber. Notfalls lasse ich sie eben etwas später wiederkommen. Meine Praxis liegt aber auch in Wilmersdorf, wo die Eltern in der Hinsicht sehr vernünftig sind.

Woran liegt es, dass es dennoch viele Impfskeptiker gibt?
Weil niemand mehr die masernkranken Kinder sieht, die zum Beispiel mit einer eitrigen Hirnhautentzündung ins Krankenhaus kommen. Meine erste Station als Kinderarzt war das Masernhaus in der Reinickendorfer Straße in Wedding. Da gab es noch in den Achtzigern ein ganzes Krankenhausgebäude, in dem nur behinderte Kinder untergebracht waren, die an Masern erkrankt waren. Kinder, bei denen sich das Gehirn aufgelöst hatte. Heute sehe ich als Kinderarzt ein bis zwei Masernfälle im Jahr. Im Vergleich zu den 700 bis 800 Grippefällen oder 500 RSV-Kindern ist das nichts. Früher mussten die Kinder auch mit Keuchhusten vier Wochen im Krankenhaus liegen, das will doch niemand.

500 RSV-Fälle? Was für eine Krankheit verbirgt sich dahinter?
Die Abkürzung RSV steht für Respiratorische Syncytial-Virus. Es ist die häufigste Ursache von Bronchitiden im Kindesalter. Ein Kindergartenkind macht das dreimal im Jahr durch, steckt das aber gut weg. Gefährlich wird es allerdings, wenn die Eltern zum Beispiel ein Neugeborenes oder ein Frühchen zu Hause haben. Dann kann das Virus zu einer schweren Lungenentzündung führen. Im letzten Jahr hatte ich ein Kind mit einem Herzfehler, das sich angesteckt hat. Das Kind hat aufgehört zu atmen und wäre fast daran gestorben. Jeden Winter sind die Kinderkliniken voll mit RSV-Fällen. Dies ist der Grund, warum es im Januar oder Februar häufig keine Betten mehr gibt.

Haben denn Erkältungsinfekte allgemein zugenommen?
Im Erleben der Eltern haben die Infekte enorm zugenommen, aber das liegt daran, dass Eltern mit normalen Infekten nicht mehr umgehen können. Die ganz schlimmen Infektionskrankheiten gibt es durch Impfungen gar nicht mehr.

Und was ist mit lästigen Kinderkrankheiten wie Hand-Mund-Fuß? Die meisten Großeltern kennen diesen Begriff überhaupt nicht.
Weil es früher keinen offiziellen Namen dafür gab. Da sagte dann der Kinderarzt statt Hand-Mund-Fuß, ihr Kind hat einen Infekt und ein paar Pickel um den Mund. Das hat die Eltern nicht weiter beunruhigt. Sobald es einen Namen gibt, klingt es gefährlich. Sage ich der Mutter, ihr Kind hat einen Noro-Virus, reagiert sie gleich ganz panisch. Sage ich aber: Ihr Kind hat Erbrechen und etwas Fieber, ist alles gut. Natürlich ist es aber besser, dass wir heute mit einem einfachen Abstrich die Viren genau erkennen können und so den übertriebenen Einsatz von Antibiotika vermeiden können.

Ist es denn so, dass die Eltern in den letzten 30 Jahren, seitdem Sie Ihre Praxis haben, panischer geworden sind?
Viel panischer. Neulich rief mich nachts eine Mutter an und sagte: „Jetzt hat mein Kind eine Hirnhautentzündung“, nur weil sie das vorher gegoogelt hatte. Die Kontaktaufnahme zum Arzt erfolgt schneller. In den 80er und 90er Jahren ist kein Mensch wegen Husten und Schnupfen zum Arzt gegangen. Man hatte viel zu viel Angst, dass man sich beim Kinderarzt Masern, Windpocken oder sonst was holt. Es fehlt der gesunde Menschenverstand. Auch nach Stürzen, sage ich: Seht Euch doch euer Kind mal genau an, denn Eltern können ihr Kind am besten beurteilen.

Häufig müssen Eltern nur zum Arzt, weil Kitas immer häufiger Gesundschreibungen verlangen.
Das versuche ich den Kitas auch regelmäßig auszureden. Dafür gibt es bei den normalen Infekten keine gesetzliche Grundlage, außer bei meldepflichtigen Krankheiten, wie Masern, Salmonellen, Krätze oder sonst was. Aber wer hat das schon? Eine Gesundschreibung, das macht kein Kinderarzt ehrlich. Wenn ich als Kinderarzt pro Woche 250 Kinder krankschreibe, kann ich die ja nicht alle am Montag darauf nochmal sehen. Also stellt man als Arzt die Gesundschreibung gleich vorher aus und dann kann man es auch gleich lassen. Auch bei Bindehautentzündungen reagieren die Kitas total panisch. Das ist wie ein Schnupfen im Auge, der geht von alleine wieder weg. Aber ich will auch mal eine Lanze für die Erzieher brechen, die haben es auch schwer. Ein Kind, das mit einem Jahr in der Kita ist, ist dauerhaft krank.

Was hilft denn, wenn Eltern und Kinder sich am Ende doch angesteckt haben?
Meistens geht alles wieder von alleine weg. Ein Schnupfen oder Magendarm-Infekt dauert in etwa eine Woche. Da muss man lernen, gelassen zu sein. Wenn das Kind durchs Zimmer rennt und spielt, und dabei keine Luftnot hat, muss man nicht gleich zum Arzt, sondern kann einfach drei bis vier Tage warten, bis alles wieder weg ist.

Irgendein gutes Hausmittel?
Es reicht, wenn man das Kind gut pflegt und ihm ausreichend zu trinken gibt. Aber bitte nicht durchgängig Fieber messen und dann sofort das Fieber senken. Wenn ein Kind nicht apathisch ist, und das Fieber nicht über 39,5 steigt, kann man es ruhig fiebern lassen. Also dieses ständige Fieber messen, nervt wirklich. Manche Eltern kommen an und sagen ich habe fünf verschiedene Thermometer und fünf verschiedene Werte. Was ich meistens verschreibe sind Nasentropfen oder ich lasse die Kinder inhalieren.

Und noch ein Tipp zum Ende?
Hände waschen, Hände waschen, Hände waschen. Mit Seife und auch ruhig mal desinfizieren. Kinder sollten nicht immer alles in den Mund nehmen, nicht jedes Regal anfassen. RSV und Influenza überleben noch nach Stunden außerhalb des Körpers auf Gegenständen, zum Beispiel auf Klettergerüsten. So können sie sich nur mit den Händen einfach von Kind zu Kind verbreiten.

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