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Wahrheitsvirus. Diesen Freitag feiert das Stück „Drei Lügen zu viel“ Premiere.

© Dirk Dehmel/Die Stachelschweine

Berliner Kabarett-Theater: Im neuen Stück der „Stachelschweine“ kann nicht mehr lügen, wer sich infiziert

Das Spielhaus im Europacenter steht vor dem Neuanfang – wegen Corona nicht zum ersten Mal. Heute feiert das Stück „Drei Lügen zu viel“ Premiere.

Es regnet, ein trister, grauer Sommertag. Noch hängt im Eingangsbereich der Stachelschweine im Europacenter die Decke durch, Halogen-Spots baumeln an ihren Kabeln herab und nichts deutet darauf hin, dass hier in wenigen Tagen eine neue Spielzeit beginnt. Doch nur wenige Schritte weiter, im Foyer, wo Frank Lüdecke gerade mit seiner Frau Caroline Kaffee trinkt, geht vor lauter guter Laune die Sonne auf.

Dafür ist Kabarett schließlich auch da, wird er später sagen: In einer Welt voller Eindeutigkeit für mehr Ambivalenz zu sorgen. Und eine gute Zeit zu haben. Die neue Spielzeit markiert schon den zweiten Neuanfang des Hauses in kurzer Zeit – der erste wurde jäh von der Pandemie unterbrochen.

„Nach einem fulminanten Start 2019 lief alles richtig gut. Dann mussten wir wieder schließen, fangen jetzt wieder bei null an,“ erzählt Frank Lüdecke. Der Frust darüber scheint aber längst der Vorfreude auf die kommende Saison gewichen zu sein. In der Auszeit haben die Lüdeckes Räume und Programm rundumerneuert – höchste Zeit, das Ganze nun mit Leben, also mit Publikum zu füllen.

2019 hatte das Paar das verschuldete Spielhaus übernommen. Die Stachelschweine sind der dienstälteste Mieter des Europacenters. 1965 sollte hier einmal das Kabarett revolutioniert werden, wurden richtige Theaterstücke mit Rollen, Handlung und Entwicklung gezeigt, statt des im Kabarett üblichen Nummernprogramms mit kurzen Sketchen.

„Wenn sie sich doch einmal hierher verirren, sind sie positiv überrascht."

Die Aufschrift „Kabarett-Theater“ über dem Eingang war schon immer Programm – und ist es auch heute noch. Die Inhalte strotzten vor politischer Satire, Gegenwarts- und Gesellschaftskritik. Getragen vom bissigen Humor eines Wolfgang Gruner oder Rolf Ulrich waren sie beliebt bei den Berliner:innen.

Bis sie es irgendwann nicht mehr waren. „Sprichst du jüngere Menschen auf die Stachelschweine an, sagen sie, ja, die kenne ich, da sind meine Großeltern früher gerne hingegangen“, sagt Frank Lüdecke. „Wenn sie sich doch einmal hierher verirren, sind sie positiv überrascht. Nur kommen die meisten eben einfach nicht.“ Woran liegt das? „Ich habe den Eindruck, dass eine starke Stilbildung stattgefunden hat“, sagt Lüdecke.

Kabarettistischer Humor, wie er im Fernsehen gezeigt wird, sei weitgehend normiert. Als gebe es enge Regeln dafür, wie etwas zu sein hat, um als lustig zu gelten. „Ich sehe verschiedene Comedians und habe oft den Eindruck, dass die denselben Text sprechen. Richtig überraschende Pointen kommen selten vor.“ Gerade das politische Kabarett, findet Lüdecke, bestehe oft nur noch aus Aneinanderreihungen von Politikernamen in Verbindung mit Klatsch-Inhalten – wirklich politische Inhalte kämen selten vor.

Frank Lüdecke: Zusammen mit seiner Frau Caroline hat er 2019 das verschuldete Spielhaus übernommen.
Frank Lüdecke: Zusammen mit seiner Frau Caroline hat er 2019 das verschuldete Spielhaus übernommen.

© Sven Darmer

„Ich bin mal aus einer Fernsehsendung geflogen mit der Begründung ,Zu viel Inhalt‘“, sagt er. Dabei sei die Jugend doch alles andere als unpolitisch. Und schaut man in Sendungen wie „Die Anstalt“ und „ZDF Magazin Royale“, die auch bei jüngeren Generationen beliebt sind, oder in die im Netz verbreitete Meme-Kultur, scheint es nicht an dem Bedürfnis zu mangeln, über politische Inhalte zu lachen. Echte politische Satire sei dennoch selten, sagt Lüdecke – und wenn man die nicht kenne, komme man auch nicht zu den Stachelschweinen.

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Außerdem, findet er, sei der Ton in politischen Debatten härter geworden – und damit womöglich weniger humortolerant. „Das merkt man manchmal am Applaus, dass das Publikum Szenen immer wieder weltanschaulich deutet, gar nicht mehr Absurdität und Witz im Vordergrund stehen, sondern die Zustimmung zu einer bestimmten Aussage. Das ist ein Missverständnis.“

Lüdecke erzählt von einer Szene, in der der Protagonist – ein über den um sich greifenden Vegetarianismus frustrierter Fleischermeister – auf der Bühne völlig übertrieben versucht, überall Fleisch reinzustopfen. Irgendwann ruft er „Da gehört Fleisch rein!“, und ein Teil des Publikums spende dann tosenden Beifall.

Dabei äußere Satire eigentlich keine Meinungen, sondern arbeite mit Spiegelungen und Überspitzungen der Wirklichkeit, mit Sprengkraft in Nebensätzen und zwischen den Zeilen. „Wir haben heute eine so große Öffentlichkeit, in der jeder mitredet, dass dieses Subtile und fein Nuancierte kaum eine Chance hat, wahrgenommen zu werden“, sagt er. Alle Information sei auf Eindeutigkeit aus. „Zum Nachdenken und Hinterfragen eigener Positionen bringen uns doch aber nur die Ambivalenzen. Darum geht es in der Satire. Und natürlich auch darum, einen guten Abend zu haben, Tränen zu lachen.“

Ein Bunker unter dem Potsdamer Platz

Diesen Freitag (9. Juli, 20 Uhr) feiert das Stück „Drei Lügen zu viel“ Premiere (Karten und weitere Infos gibt es im Netz unter diestachelschweine.de). Eine Erstfassung lief bereits 2019 unter dem Titel „Gelogene Wahrheiten“ an. Für die Nach-Corona-Zeit hat Lüdecke den Stoff nochmals komplett umgeschrieben. Prophetisch schon damals der Inhalt: Ein hochansteckendes Virus bricht aus, wer sich infiziert, kann fortan nicht mehr lügen.

Das wird natürlich zum Riesenproblem, denn klar, wenn dieses Virus Politik und Top-Etagen von Unternehmen erreicht, geht alles unter. Angela Merkel beruft deshalb einen Krisenstab ein, in einem Bunker unter dem Potsdamer Platz. Fürs Publikum ist das Wahrheitsvirus im Übrigen nicht ansteckend. Die Zuschauer sollen nur lachen. Und ein bisschen nachdenken.

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