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Der Medikamentenmanager des Unternehmens Noventi Care aus Berlin-Adlershof kommt bei vielen Pflegediensten zum Einsatz.

© Foto/Montage: stock.adobe/Noventi-Care

Ex-Chef besuchte „Hygienedemo“: Berliner Firma unterstützt Pflegedienste im Corona-Kampf

Eine Berliner IT-Firma stellt in der Krise dringend notwendige Software für Pflegedienste her. Ihr Gründer demonstriert jetzt gegen Schutzmaßnahmen.

Vor einem Vierteljahrhundert sah die Welt noch anders aus: Der Bundeskanzler hieß Helmut Kohl, fast jeder Computernutzer quälte sich mit Windows 95 herum und Firmengründer gaben ihren Tech-Start-ups (die damals noch nicht so hießen) recht kryptische Namen. Einer davon lautete: BoS&S. Den sollte man so aussprechen: „be-o-es-und-es“ als Abkürzung für „Benutzerorientierte Systeme und Software“.

Verantwortlich für diese Wortakrobatik war Thomas Wötzel, ein damals 23-jähriger Student aus Grünheide im Landkreis Oder-Spree, jener Gemeinde, in der bald die E-Autos von Tesla montiert werden sollen. Wötzel, der noch immer in Grünheide lebt und dort vergangenes Jahr für die FDP als Bürgermeister kandidierte, hatte 1995 seine Mutter unterstützen wollen, die seinerzeit den örtlichen Pflegedienst der Arbeiterwohlfahrt AWO aufbaute.

Das tat er als Gründer so erfolgreich, dass die wachsende Softwarefirma, die später im Technologiepark Berlin-Adlershof eine Heimat fand, heute als der führenden Softwareausrüster für mobile und stationäre Pflegedienste hierzulande gilt.

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Deren Mitarbeiter können Dienstpläne, Abrechnungen mit den Krankenkassen oder Medikamentenplaner erstellen – oder sogar in einer Fremdsprache ein Pflegeprotokoll diktieren, das die Software ins Deutsche übersetzt und verschriftlicht, damit die Mitarbeiter bei dieser lästigen Pflicht die Hände frei haben, um sich um die wirklich wichtigen Aufgaben zu kümmern: rund um die Pflege von Menschen.

All das und mehr leistet Software der Firma, die bis vor wenigen Wochen noch BoS&S hieß, aber mittlerweile einen gefälligeren – und in der Gesundheitsbranche bekannteren – Namen trägt: Noventi Care.

Ein Grund: Wötzel hatte seine Firma vor drei Jahren komplett an die Münchener Noventi-Gruppe verkauft. Deren Ursprünge gehen bis ins Jahr 1900 zurück, auf einen Zusammenschluss bayrischer Apotheken. Heute bezeichnet sich Noventi als Holding „neuen Zuschnitts“ oder als „Synergie-Plattform“ mit mehr als 20 Tochtergesellschaften und Beteiligungen.

Unternehmer Thomas Wötzel aus Grünheide in Brandenburg ist Gründer der Softwarefirma BoS&S (heute Noventi Care).
Unternehmer Thomas Wötzel aus Grünheide in Brandenburg ist Gründer der Softwarefirma BoS&S (heute Noventi Care).

© Kevin P. Hoffmann

Wötzel hat das Adlershofer Softwarehaus mit den heute rund 100 Mitarbeitern mittlerweile auch operativ verlassen, um neue Firmen zu gründen. Das lastet ihn aber offenbar nicht aus. Er nahm an mindestens einer der umstrittenen "Hygienedemos" am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz teil, um für seine Grundrechte zu kämpfen, die er in Corona-Zeiten zu sehr eingeschränkt sieht.

Kurz vor Ostern bekam er dafür auch eine Strafanzeige, wie er per Videobotschaft berichtet. Er klagt über eine Festnahme und Strafanzeige, obwohl er nur wenige Minuten auf dem Platz gewesen sei. Nun will er sich wehren.

Firma ist bereits unter neuer Führung

Bei seiner einstigen Firma scheint man derweil auch ohne den Gründer sehr gut klarzukommen. Seit einem Jahr führt Julius Knoche, ein von der Münchener Zentrale entsandter Manager aus Bremen, die Geschäfte. Er soll das zunehmend komplexe Gebilde der Firma und ihrer Erfolgssoftware ordnen. Knoche und Neueigentümer Noventi gehen dabei eher behutsam vor.

Doch der Name musste jetzt weichen: Mitarbeiter wie Kunden hatten BoS&S in der Regel zu „Boss“ verkürzt, was mitunter für Verwirrung gesorgt haben soll, wie Knoche berichtet – „weil wir ja keine Herrenanzüge verkaufen“. Jetzt heißt die Firma Noventi Care.

Die Corona-Krise trifft viele Pflegedienste hart. Softwareangebote wie die von Noventi Care werden notwendig.
Die Corona-Krise trifft viele Pflegedienste hart. Softwareangebote wie die von Noventi Care werden notwendig.

© Oliver Berg/dpa

In den vergangenen 25 Jahren seit der Gründung sei der Pflegemarkt im regulatorischen Umfeld immer komplexer geworden. Gleichzeitig sei auch die Digitalisierung immer weiter vorangeschritten, damit auch die eigene Software immer komplexer geworden. Gut sei: Noventi-Care-Produkte würden mittlerweile praktische alle Prozesse eines Pflegedienstes abbilden.

Schlecht sei: Die Produkte seien zwar anwenderfreundlicher als viele der Konkurrenz, aber noch nicht so, wie man sie gern hätte – gerade in diesen Zeiten, in denen die Mitarbeiter von Pflegediensten offensichtlich Besseres zu tun haben, als eine Softwareschulung zu besuchen. „Sie muss noch intuitiver funktionieren“, sagt Knoche.

Julius Knoche, übernahm vor einem Jahr die Geschäftsführung von Noventi Care (ehemals BoS&S) aus Berlin Adlershof.
Julius Knoche, übernahm vor einem Jahr die Geschäftsführung von Noventi Care (ehemals BoS&S) aus Berlin Adlershof.

© Noventi Care

Die Pflegedienste seien direkter und intensiver von der Coronakrise betroffen als das Softwarehaus. „Es war für uns daher ein logischer Schritt, umgehend Angebote zur Unterstützung unserer Kunden zu schaffen.“ Dafür habe man eine eigene Hilfe-Hotline speziell für die Kunden eingerichtet, die zum Beispiel durch krankheitsbedingte Personalausfälle an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.

Zugleich habe man für Kunden den Zugang zu in der Krise besonders dringend benötigten Softwarelizenzen und Dienstleistungen stark vereinfacht und entbürokratisiert. Die Noventi Care setze auch bewusst auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit pflegefachlicher Ausbildung, sagt Knoche.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Siean dieser Stelle auf dem Laufenden.]

„Das hat uns sehr geholfen, derart schnell reagieren zu können.“ Viele, die aus der Pflege kommen, wollen bei Personalengpässen in Einrichtungen und Kliniken auch aktiv mithelfen. „Wir unterstützen dies und garantieren ihnen, eventuelle Gehaltseinbußen auszugleichen.“

In der Adlershofer Zentrale ist es in diesen Wochen ruhiger als üblich, viele sind im Homeoffice und treiben dezentral Großprojekte voran: die Einführung des E-Rezepts oder der elektronische Patientenakte. Und die Anpassung der Software an einen neuen Kundenkreis: Einrichtungen, die Menschen mit Behinderungen gemäß dem neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG) unterstützen, selbstbestimmter zu leben.

„Es ist wirklich toll, was wie viel Tolles hier bewegt werden kann. Da wollen wir ein Teil von werden“, sagt Knoche.

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