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Margot Friedländer engagiert sich gegen Antisemitismus, vor allem an Schulen.

© Gregor Fischer/dpa

Berliner Ehrenbürgerin: Holocaust-Überlebende Margot Friedländer wird 99 Jahre alt

Margot Friedländer überlebte die Verfolgung durch die Nazis und emigrierte nach New York. Im Alter kam sie zurück nach Berlin und begann ein neues Leben.

Die Party am 5. November musste verschoben werden. Berlins Ehrenbürgerin Margot Friedländer klingt trotzdem zuversichtlich am Telefon, wenige Tage vor ihrem Geburtstag, an dem sie 99 Jahre alt wird: „Das holen wir nach.“ Sie wartet da gerade auf einen Bekannten, der ihr helfen soll, eine Zoom-Konferenz einzurichten, damit sie aus ihrem Buch vorlesen kann. Der Computer steht im Schlafzimmer ihrer kleinen Wohnung, zwischen Papierstapeln auf dem Tisch am Fenster. Darauf liest sie nach wie vor jeden Tag die New York Times, skypt mit Freunden.

Friedländer war nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verfolgung durch die Nazis aus Deutschland nach New York emigriert. Vor über zehn Jahren zog sie zurück in ihre Heimatstadt Berlin und engagiert sich hier seitdem unermüdlich gegen Antisemitismus, vor allem bei Schülern. Unter den aktuellen Umständen sei das leider weniger geworden, sagt sie. Aber sie tue auch weiterhin, was sie könne. Nun eben per Zoom.

Einmal war beim Nachbarn in der Seniorenresidenz ein fünfjähriger Junge zu Besuch. In der Kita hätten sie erzählt, dass Juden blaues Blut haben, berichtete der. Margot Friedländer reagierte sofort. „Jetzt pieksen wir uns mal beide in den Finger“, schlug sie vor. „Und dann vergleichen wir.“

Bei einem Besuch in ihrer Wohnung kurz vor dem ersten Lockdown zeigt sie die Gegenstände, die sie noch besitzt aus der Zeit der Verfolgung, als sie ständig in Lebensgefahr schwebte: den Judenstern, den sie im Konzentrationslager trug, die Bernsteinkette der Mutter und deren Adressbuch, das ihr beim Überleben im Untergrund half. Wie hat sich ihre Mutter bemüht um ein Visum zunächst für die USA, dann für andere Länder. Vergeblich. Margot Friedländers Mutter wurde, ebenso wie ihr Bruder Ralph, in Auschwitz ermordet.

Manchmal denke sie darüber nach, sagt Friedländer, wie es sein konnte, dass Männer tagsüber Kinder töteten und abends mit ihren eigenen Familien zu Tisch saßen. „Es ist nicht zu erklären“, sagt sie.

Erst 2003 kam Friedländer zum ersten Mal wieder nach Berlin

Im April 1943 musste sie untertauchen, lebte von da an dauernd in der Angst, entdeckt zu werden. Ein Jahr später wurde sie aufgegriffen und ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Mit Glück überlebte sie, bis das Lager zum Kriegsende befreit wurde.

Erst 2003 kam sie im Rahmen des Besuchsprogramms des Senats zum ersten Mal wieder nach Berlin. Für André Schmitz war es „Freundschaft auf den ersten Blick“. Als Chef der Senatskanzlei war es seine Aufgabe, die Gruppe ehemaliger jüdischer Berliner zu begrüßen. Die großen Augen von Margot Friedländer faszinierten ihn. Spontan zupfte er eine Rose aus dem Senatsgesteck und überreichte sie ihr.

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Ein Jahr später bekam er Post aus New York. Margot Friedländer schrieb ihm, dass ein Freund, Thomas Halaczinsky, einen Film über ihre Reise nach Berlin gedreht hat. „Don't Call It Heimweh“ eröffnete 2005 das Jüdische Filmfestival.

Trotz allem habe sie gute Erinnerungen an die Menschen, die ihr geholfen haben. „Sie haben nicht weg gesehen, obwohl sie das den Kopf hätte kosten können.“ Ein Kreuz, das sie in der Untergrundzeit zur Tarnung trug, hat sie später André Schmitz geschenkt.

„Wenn nur bei zweien oder dreien etwas hängenbleibt“

Immer wieder springt Margot Friedländer auf während des Besuchs, serviert Tee, Kekse, holt ein Bild von dem Grundstück am Scharmützelsee, wo sie als Mädchen so glücklich gespielt hat. Dann bringt sie das Hörbuch herbei, das sie aufgenommen hat aus ihrer Autobiografie „Versuche, dein Leben zu machen“. Der Abschiedssatz der Mutter gab dem Buch den Titel.

Friedländer trägt ein schickes schwarzes Strickkleid, dazu flache Ballerinas. Ihren Traum, Designerin zu werden, konnte sie sich in der Emigration nicht erfüllen. Sie hat in New York viele Jahre im Reisebüro gearbeitet, war zeitweise auch in ihrem erlernten Beruf als Schneiderin tätig.

Bitter ist sie nicht. „Ich frage auch nicht, warum Gott das erlaubt hat“, sagt sie. Und fügt nach einer kleinen Pause hinzu: „Gott ist nichts, was man greifen kann.“ Gläubig sei sie, aber nicht fromm. Wenn sie in den Schulen las, war sie nie böse, wenn die Schüler dabei mit den Handys spielten. „Wenn nur bei zweien oder dreien etwas hängenbleibt.“

Die Katze Lily verschmäht das Leckerli, das sie ihr hingelegt hat, rollt sich lieber auf dem Bett im Schlafzimmer zusammen. Zurückzukehren nach Berlin habe sie „nicht eine Sekunde bereut“. Im Gegenteil.

Wann immer André Schmitz sie in der ersten Zeit mitnahm zu einem großen Event, der Aidsgala zum Beispiel, machte sie sich rasch selbständig, tauschte mit neuen Bekannten Visitenkarten aus. „Sie ist eine Menschenfängerin“, sagt der frühere Staatssekretär. „Nicht auszudenken, was aus ihr geworden wäre, wenn es die Nazis nicht gegeben hätte.“

Wenn er sie vor dem Umzug sonntags anrief in New York, meldete er sich mit den Worten: „Hier spricht die Heimat.“ Als sie 2003 zum ersten Mal zurückkam nach Berlin, freute sie sich spontan, „aus einer so schönen Stadt zu kommen“. Einen Moment lang war sie erschrocken über dieses Gefühl und fragte sich: „Darf ich das sagen?“

„Ich bin ganz Berlinerin. Ich liebe meine Stadt“

Bei der Feier, in der sie die deutsche Staatsbürgerschaft wieder annahm, sagte Friedländer, man müsse sich doch für nichts bedanken, was einem einst geraubt wurde. Später konstatierte sie bei einer anderen Gelegenheit: „Ich bin ganz Berlinerin. Ich liebe meine Stadt.“ Egal, ob im Schloss Bellevue oder auf der Berlinale: Mit einem fast mädchenhaft anmutenden Charme ging sie immer offen auf andere Menschen zu.

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Den Tod, der ihr in der Jugend ständig im Nacken saß, hat sie dabei nie verdrängt. Hat auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee Platten anbringen lassen für Mutter und Bruder, dort, wo Oma Adele und Opa Wilhelm begraben liegen. Auf ihr eigenes Grab soll später eine Gedenkplakette für ihren Mann kommen, der in New York begraben ist. Er konnte Deutschland nicht verzeihen, dass seine Mutter getötet wurde, war nie wieder in Berlin. Die Möbel, die sie aus New York mitgebracht hat, erinnern an ihn. Sie besitzt sogar noch die Handtücher, die sie damals nach der Befreiung durch die Russen aus der Wäscherei des Lagers Theresienstadt mitnahm über den Ozean.

In den letzten zehn Jahren habe sie sich noch mal völlig neu erfunden, sagt André Schmitz. Es gibt viele Zeugnisse dafür in der Wohnung mit den überquellenden Bücherregalen und den vielen Kuscheltieren auf dem Sofa. Drei dicke Aktenordner füllen allein die Zeitungsausschnitte über ihr Leben. Und da sind Mappen mit den Ehrungen, die ihr verliehen wurden, daneben Fotokalender voller schöner Momente im Freundeskreis in diesem vierten Leben, nach der unbeschwerten Kindheit, nach den grausamen Verfolgungen, nach über 60 Jahren in den USA.

„Es hat einen Sinn gehabt, dass ich überlebt habe“

Auch ihre Mission erfüllt sie, die Arbeit mit den Schülern, damit so etwas nie wieder passiert: „Es hat einen Sinn gehabt, dass ich überlebt habe.“ Der Schmerz über das, was geschehen ist, hat sie dennoch nie verlassen. Mit ihrem Mann brauchte sie darüber nicht zu sprechen, weil er ebenso empfand.

Im Herbst vergangenen Jahres stürzte Friedländer in ihrer Wohnung und zog sich fünf Brüche zu. Dann kamen noch eine Lungenentzündung und ein Herzinfarkt hinzu. Die Ärzte protestierten irgendwann, weil sie zu viel Besuch bekam.

Beim Berliner Presseball Anfang des Jahres war sie schon wieder fit, fast ein Wunder. Auch ihr Geburtstag wurde im Januar nachgefeiert. 80 Gäste waren da, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender. Zum 100. Geburtstag im nächsten Jahr, das wünscht sie sich, sollen 100 Freunde kommen.

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