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Britischer Berliner: Mark Espiner zog 2009 von London nach Berlin um.

© Thilo Rückeis

Berliner Brite und Brexit: Geteilte Stadt, Divided Kingdom

Nach dem Brexit-Votum sind viele Briten verunsichert. Der britische Berliner Mark Espiner fragt sich, wie es für ihn hier nun weitergeht.

In der Brunnenstraße gibt es dieses große Haus in der Nähe der U-Bahn Station Rosenthaler Platz. Ich sah es zuerst kurz nachdem ich im Jahr 2009 in der Stadt ankam. Seitdem bringt es mich jedes Mal, wenn ich daran vorbei radele, zum Nachdenken. Über die ganze Fassade hinweg steht ein Slogan, geschrieben in riesigen, sauber gemalten Buchstaben: „Dieses Haus stand früher in einem anderen Land.“

Berlin, die geteilte Stadt. Deutschland, das geteilte Land. Dieses Haus gehörte einst zur DDR. Eine Idee und ein Ort, die nicht länger existieren. Den Slogan kann ich nachvollziehen, dachte ich damals, bei all den großen Veränderungen, die ich in London miterlebt habe. Naiv und oberflächlich zog ich einen Vergleich zur Gentrifizierung in Camden, meinem Londoner Kiez. Mein Lieblingspub, in dem man bis drei Uhr nachts Guinness trinken konnte und der die Leute der Gegend an den Bieruntersetzern zusammenhielt, wurde an einen Bauträger verkauft und in feine Wohnungen umgewandelt. Es fühlte sich an, wie wenn Camdens Herz herausgerissen wurde. Alles hatte sich verändert. So müssen sich die Leute der früheren DDR fühlen, dachte ich damals. Ich nahm mir das Versprechen ab, trotz Berliner Schnauze sensibel damit umzugehen.

Nun bin ich mit der Vorstellung konfrontiert, dass Großbritannien bald auch ein geteiltes Land sein wird, und schon bekommt dieser Gedanke an dem Haus eine komplett andere Bedeutung. Das Land, das ich zurückgelassen habe, existiert so nicht mehr. Ich bin oft in Großbritannien und war sogar erst vergangene Woche dort, als Jo Cox ermordet wurde. Ich kann kaum beschrieben, welche Gefühle diese Tat ausgelöst hat.

Morgens um vier nach der Abstimmung über den Brexit ging es los mit den E-Mails von Freunden und Verwandten. Was passiert hier eigentlich gerade? Später dann am Tag hatte ich Freunde und Familie in Tränen am Telefon. „Warum können wir nicht eine Führungspersönlichkeit wie Angie haben?“, sagte einer. „You feel further away“, ein anderer. Du fühlst dich weiter weg an. Ja, so geht es mir auch.

Werte, die wir im United Kingdom auch mal hatten

Als ich nach Berlin zog, erzählte ich allen, wie fantastisch es hier ist. Während mein Bruder in London fast tausend Pfund monatlich für die Kitabetreuung seines 18 Monate alten Sohns bezahlte, zahlten wir in Berlin 30 Euro inklusive Mittagessen. Der Zug zum Flughafen kostete drei Euro, nicht zwanzig Pfund. Die Miete hier war ein Drittel der Londoner Preise. Ich begründete all das mit den europäischen Idealen, aber in der Tat ist es nur solide deutsche Sozialpolitik. Und Werte, die wir im United Kingdom auch mal hatten.

Ich hatte viele Gründe, nach Deutschland umzuziehen. Der Hauptgrund jedoch war die Liebe. Ich traf meine Lebensabschnittsgefährtin (ich liebe diese aneinander gereihten Nomen) in London, als sie an einer Schule in Hackney arbeitete. Sie liebte London, trotz der endlosen Witze und Bemerkungen über den Krieg. Nach einem Arbeitsaufenthalt in Berlin schlug ich vor, dorthin zu ziehen. Die Vorstellung, wieder „zu Hause“ zu sein war für sie auch schön und so tauschten wir einfach unseren Immigrantenstatus.

Nun war ich derjenige „out of water“, aber ich hatte oft das leichte Gefühl, dass es in Deutschland so etwas wie Bewunderung für die Briten gibt. Die meisten Leute sprechen Englisch mit mir. Wir sprechen hier über Musik und nicht über den Krieg.

Ich Europäer liebe London

Ich habe immer noch oft Heimweh, ich liebe London. Mit der Zeit jedoch fühlte ich mich immer europäischer und das Gefühl einer gemeinsamen Verbindung wuchs. Ich begann, mich zu integrieren (Hilfe! Ich habe jetzt sogar einen Schrebergarten), aber zusätzlich nahm ich vor allem etwas anderes wahr: die gemeinsame Idee des Austauschs, die zurück zur Aufklärung geht und danach fortschrittlich weiterentwickelt wurde. Die EU half dabei, diese Idee zu unterstützen. Ich konnte hier anknüpfen, wurde krankenversichert und zahlte meine Steuern – all das war für mich so viel einfacher, als für meine Kollegen aus Amerika, Australien oder Neuseeland, die mit Arbeitserlaubnis und steuerlichen Hürden zu kämpfen hatten.

Man kann auch sagen, dass mir die EU Liebe gebracht hat. Gestern las ich diesen Kommentar einer nun ziemlich entmutigten jungen Person: „Die jüngere Generation hat das Recht verloren, in 27 anderen Staaten zu arbeiten und zu leben. Wir werden niemals das ganze Ausmaß der verlorenen Möglichkeiten, Freundschaften, Hochzeiten und Erfahrungen kennen, die uns genommen werden.“ Eine Träne formte sich in meinem Auge.

Ich habe auch Hass erlebt, teilweise wirklich ekelhaft. Doch ich glaube, dass wir so viel mehr gemeinsam haben, als das, was uns spaltet.

Boris Johnson sah verängstigt aus

Nun bin ich völlig durcheinander. Das Divided Kingdom mag die EU nicht. Und das bedeutet auch, dass es Europa nicht mag. Wo bleibe ich in all dem?

Das Einzige, was man in so einer Situation tun kann, ist eine gemischte Sauna zu besuchen. Was für ein Zeichen dafür, wie sehr ich mich von einem zugeknöpften Engländer zu jemandem entwickelt habe, der sogar einen heißen Raum mit nackten Deutschen teilt. Eine Frau, die mich englisch sprechen hörte, machte eine mitfühlende Bemerkung über das Wahlergebnis. Sie hat einen englischen Partner und war ebenfalls besorgt. Sollte er vielleicht deutscher Staatsbürger werden? Jemand anderes sagte zu mir, dass er heute ein Vermögen am Geldmarkt gemacht habe, bevor er dann ehrliche Sorge über die weitere Zukunft bekundete.

Keine noch so große Anzahl an heißen Saunas und kalten Duschen könnte jemals das Unbehagen ausschwitzen, das ich empfand. Als ich im Supermarkt am Handy sprach, war ich mir auf einmal bewusst, dass ich Englisch rede und fühlte mich auf eine andere Weise unwohl. Waren die Leute nun weniger wohlwollend gegenüber den Briten? Hatte sich etwas an ihrer Zuneigung geändert?

Als ich später den Fernseher anschaltete und Boris Johnson sah, musste ich lachen. Er sah verängstigt aus. Er erinnerte mich an die zwei Impresarios aus dem Musical „The Producers“, die versuchen, einen musikalischen Flop zu kreieren, um die Versicherungssumme gegen den Flop abzukassieren. Stattdessen erschaffen sie das Musical „Springtime for Hitler“, das zum riesigen Bühnenhit wird. Genauso geht es Boris Johnson jetzt, im Unglauben blinzelnd über das, was er getan hat. Oder, um Ihnen einen etwas kultivierteren, deutschen Vergleich zu liefern, denkt er gerade das, was Goethes Zauberlehrling in Panik ausspricht: Die ich rief, die Geister / werd ich nun nicht los. Obwohl ein anderes Goethe-Zitat vielleicht besser passt: Der Patriotismus verdirbt die Geschichte.

Wird London arm, aber sexy?

Boris, der frühere Londoner Bürgermeister, ausgebuht in den Straßen Londons. London, das über die nächsten Jahre sehr wahrscheinlich den Titel „arm, aber sexy“ für sich beanspruchen kann.

Trotz Boris und der anderen, die uns versichern möchten, dass die Zugbrücke nicht hochgezogen wird und dass Großbritannien immer noch Teil Europas ist, fühlt sich alles doch sehr isolierend an.

Zuerst kam ich nach Berlin, um herauszufinden, warum so viele Briten hierherzogen. Dann tat ich es auch. Jetzt, während mein Heimatland in den Atlantik hinausdriftet, beginne ich, meine anfänglichen Gefühle von Schock und Traurigkeit beiseitezulegen. Stattdessen wende ich mich Europa zu, in der Hoffnung, dass es in diesen schwierigen Zeiten zusammenbleibt. In letzter Zeit wurden diese Worte des englischen Dichters John Donne oft zitiert und sie sind es wert, erinnert zu werden.

Kein Mann ist eine Insel,

Eine Gesamtheit für sich.

Jeder ist ein Stück des Kontinents,

Ein Teil des Ganzen.

Wäre ein Klumpen durch das Meer weg  gewaschen,

Ist Europa weniger.

Ich bin mir sicher, wenn es sprechen könnte, würde das Haus in der Brunnenstraße dem zustimmen.

Mark Espiner ist freier Journalist, Autor und Theaterdirektor. Er arbeitet für den „Guardian“ und andere britische Zeitungen sowie für den „Tagesspiegel“ und die „Deutsche Welle“. Espiner lebt seit 2009 in Berlin. Der Text wurde von Claudia Eberlein übersetzt.

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