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Die Ernst-Reuter-Oberschule in Gesundbrunnen.

© Susanne Vieth-Entus

Berliner Brennpunktschule: Rütlis Erben in Gesundbrunnen

Schwierige Klientel, bröckelnde Bauten, frustrierte Lehrer: Warum eine Schule in Gesundbrunnen trotz Hilfsprogramm abstürzt.

Irgendwas ist schief gelaufen an der Ernst-Reuter-Schule. Das sieht man schon von der Straße aus. „Sehen Sie mal. Da fehlt sogar das ’E’“, sagt einer der Schüler, die vorm Tor quatschen und rauchen und auf den Schriftzug am geschwungenen Eingangsgebäude zeigen. Das „E“ fehlt aber nicht beim „Ernst“, sondern hinten beim Wort „Schule“. Immerhin.

Das entschwundene „E“ ist das kleinste Übel an diesem Ort in Berlins Armenhaus Gesundbrunnen. Die größeren Übel kann man im druckfrischen Inspektionsbericht nachlesen. Und in der Polizeistatistik. Ein Lehrer ist noch krank geschrieben: Er hatte einen Schüler am Verlassen der Schule hindern wollen, berichtet die Polizei, weil er seinen Namen nicht sagen wollte. Den wollte der Lehrer wissen, weil der Schüler zuvor eine gehbehinderte Pädagogin beleidigt haben soll. So geriet man an einander. Jetzt gibt es zwei Strafverfahren wegen Körperverletzung, denn auch der Schüler behauptet, etwas abbekommen zu haben. Damit beläuft sich die Gesamtzahl der Körperverletzungen, die 2016 zur Anzeige kamen, auf elf.

„Manche Lehrer haben Angst“, sagt eine Lehrkraft angesichts des „großen Gewaltpotentials“. Sie spricht von Schülern aus extrem schwierigen familiären Bedingungen, die dringend einen geordneten funktionierenden Schulalltag brauchten. „Stattdessen ist die Organisation eine Katastrophe“, fasst die Lehrkraft die Lage zusammen. Zudem passiere es bei Konflikten, dass Schüler ihre Großfamilien alarmierten. Dann treffen vor der Schule Väter, Onkels und Cousins aufeinander. „Parallelen zur Rütli-Schule sind vorhanden“, lautet die trocken vorgetragene Zusammenfassung eines jüngeren Lehrers.

Parallelen nicht nur bei Gewaltbereitschaft

Tatsächlich gibt es Parallelen nicht nur im Hinblick auf die Gewaltbereitschaft, sondern auch hinsichtlich der Schulleitungskrise: Ebenso wie damals die Rütli-Schule hat auch die Ernst-Reuter- Schule ein Leitungsproblem: Schon unter dem vorvorletzten Schulleiter ging es der Schule nicht gut, weshalb sie vor über drei Jahren in das Sonderprogramm „School-Turnaround“ der Robert-Bosch- Stiftung aufgenommen wurde: Die zehn problematischsten Schulen der Stadt wurden damals ermittelt und bekamen jeweils einen Berater. Knapp zwei Millionen Euro werden ausgegeben, davon 400 000 Euro von der Bildungsverwaltung.

Inzwischen zeichnet sich ab, dass sich nicht an allen zehn Schulen die Hoffnungen erfüllt haben. Die Bosch-Stiftung spricht von „einzelnen Schulen“, an denen Probleme „die gewünschten Entwicklungen verzögern“. Das sei aber „normal und nicht überraschend“, weshalb das Programm auf mehrere Jahre angelegt sei. Zwar läuft die reguläre Förderung im Sommer 2017 aus, aber die Bildungsverwaltung stellt „Folgeunterstützungsmaßnahmen“ in Aussicht.

"Die Toiletten sind so abstoßend"

Das ist auch bitter nötig. Der aktuelle Inspektionsbericht liest sich wie eine endlose Auflistung von Versäumnissen und ein Dokument ungeheuren Versagens. Die Rede ist von einer „Verinselung“ im Kollegium, auch von fehlender Sprachförderung – ausgerechnet in einer Schule mit rund 90 Prozent Kindern aus Einwanderfamilien. „Wir verstehen nicht, warum die verantwortliche Schulleiterin fast zwei Jahre im Amt gelassen wurde“, heißt es aus dem Kollegium. Auf die Frage des Tagesspiegels, warum es unter den Augen der Bildungsverwaltung überhaupt zu einer weiteren Verschlechterung kommen konnte, gab es bislang keine Antwort. Vielmehr wird auf die positiven Ansätze verwiesen, die es unter dem neuen – noch kommissarischen – Schulleiter Andreas Huth gibt.

Auch Huth gibt sich optimistisch, erwähnt den Schulgarten, das Unesco-Projekt, die gute Quote beim Übergang in die gymnasiale Oberstufe, anstehende Fortbildungen und junge Kollegen voller Elan, die nach ihrem Referendariat der Schule treu blieben. Aber er nennt auch ein großes Hemmnis – die bauliche Lage: Die Fassade sieht erbärmlich aus, Räume und Flure sind schmucklos und heruntergekommen, die Toiletten sind so abstoßend, dass einige Schüler sie überhaupt nicht mehr betreten. „Im Gegensatz zu Neukölln, das seine Brennpunktschulen sanierte, herrscht in Mitte Stillstand“, fasst ein Pädagoge die Lage zusammen.

So soll das Turnaround-Programm wirken

DIE AUSGANGSLAGE

Jedes dritte Berliner Schulkind lebt in sozial prekären Verhältnissen. An rund 250 Berliner Schulen beträgt ihre Quote zwischen 50 und knapp 100 Prozent. Diese Schulen haben besonders große Probleme, ihre Schüler zum Abschluss zu führen. Mitunter gehen die Schwierigkeiten einher mit einer schwachen Schulleitung.

DAS PROGRAMM

Die Robert-Bosch-Stiftung will herausfinden, wie man Schulen in schwieriger Lage wirkungsvoll helfen kann. Dafür wurde 2013 das „School-Turnaround-Projekt“ gestartet und mit zwei Millionen Euro pro Jahr ausgestattet. Beispielhaft wurden in Berlin zehn Schulen ausgesucht, deren Situation besonders dramatisch ist.

DER WEG

Jede Schule erhält vier Jahre lang einen Prozessbegleiter, der sie berät. Zudem bekommt sie insgesamt 25 000 Euro, um beispielsweise Fortbildungen zu buchen oder ihre Außendarstellung zu verbessern – etwa durch eine neue Website oder neue Schaukästen. Weitere Gelder können für gezieltes Coaching beantragt werden.

DAS PERSONAL

Anders als in den USA, wo in gescheiterte Schulen ein neues Leitungsteam einrückt, wird beim Bosch-Konzept mit dem alten Personal der Neuanfang versucht. Meist verbessert sich die Lage aber erst durch eine neue Leitung. Wie berichtet, gelang an der Ernst-Reuter-Schule erst beim zweiten Leitungswechsel der Umschwung.

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