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Farbexplosion. Der Rhododendronhain steht im Mai in voller Blüte, also nichts wie hin da.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Berlin zu Fuß entdecken: Es wächst und wuchert, piept und gurrt

Spazierengehen – wann, wenn nicht jetzt? Und wo, wenn nicht im schönsten Teil des Tiergartens? Unsere Autorin hat sich auf Stadtsafari begeben.

Als ich das erste Mal, voller Vorfreude, in den Englischen Garten des Tiergartens ging, wurde ich maßlos enttäuscht. Diese sterile Anlage vor dem Teehaus, in der die Büsche stramm standen, hatte doch nichts mit dem lauschigen britischen Original zu tun! Aber dann habe ich ihn doch noch gefunden, meinen englischen Garten, auch wenn er nicht so heißt: im Großen Tiergarten.

Seit Beginn der Corona-Zeitrechnung komme ich fast jeden Tag hierher, ich kann mich gar nicht sattsehen an seinem Grün. Auch nicht satthören. Da zwitschert’s und piept’s und krächzt’s und gurrt’s, dass die Philharmoniker ganz neidisch würden. Daher lautet das erste Gebot: Kopfhörer ab!

An der Kreuzung schräg gegenüber von den Nordischen Botschaften stelle ich mein Fahrrad ab und biege ein in den „Großen Weg“, der seinem Namen alle Ehre macht. Ideale Coronastrecke! Leichtfüßig geht man den anderen aus dem Weg, auf einer der vielen Bänke kann man sich mit Sicherheitsabstand zum Plaudern niederlassen.

Gehen Sie in den Rhododendronhain - jetzt sofort!

Da um dieses Tiergarten-Rechteck herum nur wenige Menschen leben, ist es nie überfüllt. Dabei ist dies der schönste, der verwunschenste Teil des Parks, mit verschlungenen Wegen, eben nicht wie im Englischen Garten mit dem Lineal gezogen, die dem Spaziergänger seinerseits Schwung verleihen. Mit Wasserläufen und Inseln, die mich in ihrer Wildheit, ich weiß nicht warum, immer an Tom Sawyer und Huckleberry Finn denken lassen, mit Wiesen, die groß sind, aber dennoch was Intimes haben.

Ich biege links ab, in einen kleineren Weg, den Rhododendronhain. Gehen Sie hin! Jetzt sofort, bevor die Blüten, die gerade in voller Pracht stehen, als wären sie eben explodiert, wieder verblüht sind. Vielleicht finden Sie auf der versteckt gelegenen Bank am Wasser, dem romantischsten Plätzchen auf diesem Gang, einen Platz. Vielleicht war auch ein Pärchen oder ein Yogatreibender schon schneller als Sie.

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Macht nichts, weiter geht’s durch den Hain – Menschen auf Fotosafari, Naturfreunde, mit Fernrohr um den Hals –, an ganzen Wäldern von Farnen vorbei, deren Spitzen eingerollt wie Hütchen wirken, bis zum Ende durch.

Dann ein Schwenk nach links, auf die Luiseninsel. Die Stiefmütterchen haben die Gärtner gerade rausgerupft, aber der Tannenbaum in der Mitte der Blumeninsel steht bereit, als warte er auf Weihnachten. Daneben ein Graureiher. Sieht aus wie eine Skulptur, ist aber lebendig. Luise dagegen ist tatsächlich nur eine Figur aus Stein, aber eine so anmutige, dass sie fast lebendig wirkt.

Kein naturbelassenes Biotop, sondern "kuratierte Natur" nach Art des 19. Jahrhunderts bietet der Tiergarten.
Kein naturbelassenes Biotop, sondern "kuratierte Natur" nach Art des 19. Jahrhunderts bietet der Tiergarten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Weiter geht’s, eine junge Kaninchenfamilie hoppelt an mir vorbei in den Wald. „Im Dschungel“ lautete neulich die Überschrift eines Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ über den Tiergarten, und das war als Warnung gemeint: Vorsicht, extrem gefährlich! Als „Schlachtfeld“ hat der Autor den Park beschrieben.

Ich rieb mir die Augen. Für mich ist der Große Tiergarten tatsächlich ein Dschungel, aber im schönsten Sinne. Mitten in der Stadt wächst und wuchert es hier grün, dass es eine Wonne ist.

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Einmal habe ich es gewagt, einen halben Meter des Weges abzuschneiden und über eine Ecke Waldboden zu laufen, da wurde ich von einem älteren Herrn gleich angerüffelt, ich dürfe doch nicht durch die Natur trampeln! Ich hab’s ihm nicht gesagt, nur gedacht: Es ist ja auch keine Natur, sondern ein Park, von Menschen geplant und gehegt und gepflegt und gegossen, die Wildblumenwiese geschützt, das ist unser Glück.

Die Illusion von Natur zu schaffen, darauf haben sich die englischen Landschaftsgärtner verstanden, und von ihnen hat Peter Joseph Lenné schließlich gelernt. Die Wildnis hier ist „kuratiert“. Die rumliegenden Baumstämme, das Kraut, was auf der Erde sprießt, das ganze Gestrüpp und dichtes Laub der Bäume, durch das die Sonne am Abend besonders betörend fällt, all das ist gewollt.

Auch die Unordnung auf den Inseln im Gewässer wird absichtlich so gelassen, den Tieren zuliebe. Die wollen schließlich auch mal ihre Ruhe haben, sich vor den Menschen verstecken. Da! In dem Moment sehe ich ein paar fette Schildkröten den Stamm aufs Eiland hoch ihres Weges schleichen.

Jetzt links, auf die Promenade, die mir endgültig ein 19.-Jahrhundert-Feeling gibt, trotz der Fahrradfahrer auf beiden Seiten, ich schreite aufs Weiße Haus zu, das in der Ferne leuchtet – vulgo: Schloss Bellevue –, und bei der nächsten Gelegenheit schon wieder links, mit Schwung zurück zum Rhododendronhain, diesmal am anderen Ufer.

Kein Kommerz weit und breit

Ein Windstoß lässt die Blätter rascheln, aber da ist noch ein anderes, komisches Geräusch. Ein Blick hoch (der sich hier immer lohnt): In der Spitze der hohen schlanken Birke sitzt doch tatsächlich ein Kormoran, schwarz und fett.

Auf der großen Wiese stehen drei Menschen und schlagen sich. Keine Angst, ganz zivilisiert, jeder für sich, irgendein Sport, der Tiergarten ist eine einzige Fitnessbude, umsonst und draußen.

Das Denkmal von Friedrich Wilhelm III. erinnert daran, dass dies mal ein Königen vorbehaltenes Jagdrevier gewesen ist, das jetzt jedermann und jederfrau offen steht. Und das auf jede Form des Kommerzes verzichtet. Es gibt keine einzige Dönerbude in diesem Teil, wer was essen möchte, bringt sich sein Picknick mit.

Selbst der Rummel, der sonst von der Straße des 17. Juni rüberschwappt, die zuletzt zur Kirmesmeile verkommen ist und immer wieder zur Tiergartenschließung führte, bleibt den Spaziergängern in diesem Corona-Sommer erspart.

Drei Graugänse kriegen sich in die Federn und brüllen herum, keine Ahnung, ob es sich um ein Liebesdrama handelt oder um einen Streit, eine Krähe rupft sich eine Chipstüte aus dem Mülleimer. Ich mache einen Schlenker in den Rosengarten, der ein bisschen an Italien erinnert. Jetzt, da der Stiefel so unerreichbar scheint wie die britische Insel: Balsam für die Reiseseele.

Die Glyzinien hängen üppig von der Säulenanlage, in den offenen Lauben sitzen Freundinnen, jede auf ihrer eigenen Bank, plaudern in einer offenen Laube, der Brunnen liefert plätschernd die Hintergrundmusik.

Und am Ende blitzt die Goldelse

Über die Brücke auf die andere Seite, die Bäume spiegeln sich hier wie anderswo im stillen Gewässer, als läge darin ein zweiter, ein Märchenwald. Wieder links. Und am Ende, zur Abwechslung, rechts. Manchmal, wenn der Park gewässert wird, damit er nicht verdurstet, und die Sonne dabei scheint, bekomme ich neben einer kalten Dusche sogar einen Regenbogen geschenkt.

Und ganz am Schluss der Runde, kurz vor der Rückkehr zum Ausgangspunkt, wenn ich über die Gänseblümchenwiese gehe, und obwohl ich es längst wissen müsste, überrascht es mich in dem Moment immer wieder, da blitzt die Goldelse zwischen den Baumwipfeln hervor.

Auch das ist der Tiergarten: ein von Menschen zerstörter Park, der aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs wiederauferstanden ist und heute so aussieht, als wäre nie was gewesen. Ein Hoffnungsträger in Krisenzeiten.

Außerdem erschienen in unserer kleinen Spaziergangsserie: Der Tegeler Forst, die Ecke vom Neuköllner Thomas-Friedhof bis zum Körnerpark, der Teufelsberg und die Halbinsel Stralau.

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