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Hendrik Hübscher von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bezirksmuseenleiterin von Götz, Bezirksstadträtin Kaddaz und ihr Amtskollege Oltmann (v. l.) stellten die „Insel-Tour“ vor.

© Mike Wolff

Berlin-Schöneberg: Geschichtstour durch die "Rote Insel"

Kommunisten, Jazz-Heroen und die Dietrich. Die Rote Insel lädt zu einem historischer Rundgang durch den Kiez.

Eigentlich ist es hier wie überall: unbedarft läuft man im wahrsten Sinne des Wortes durch Geschichte, merkt aber nichts davon. Auch die Schöneberger „Rote Insel“ war bislang ein solcher Raum. Knapp 100 Jahre nach der Novemberrevolution wird ihre historische Bedeutung mithilfe eines Tafelparcours für Spaziergänger inszeniert.

Ortstermin: Donnerstag, 11.30 Uhr, feierliche Eröffnung der Inseltour. Schon zehn Minuten vor dem eigentlichen Termin ist der kleine Präsentationsraum im „Weinverein am Berg“ vollkommen ausgefüllt – nicht genug Sitzplätze, um dem Andrang zu entsprechen.

„Autumn Leaves“, der Jazzklassiker, live gespielt von Gerd Schäfer und Lutz Fußangel von der Leo Kerstenberg Musikschule, erklingt einleitend und kündigt schon den beim folgenden Spaziergang im Streiflicht niederkommenden Laubregen an. „Westdeutschland ist für mich...“, unterhalten sich zwei Damen, „ich bin jedenfalls Westberlinerin“, sagt die andere mit Betonung auf „West“, deren Stimme während der jazzig gedämpften Solopassage der Gitarre vorübergehend verständlich wird, bis das Saxophon wieder einsetzt.

Im Publikum dominiert weißlich graues, lichtes Haar – fast fragt man sich, ob nicht einige alte Genossinnen unter den Anwesenden sind. Nein, natürlich nicht aus den 20er oder 30er Jahren. Aber womöglich aus den 60ern, 70ern, 80ern. Bekanntermaßen war schließlich auch West-Berlin einmal eine Insel, die vielen Linken und Wehrdienstverweigerern der BRD ein wesentlicher Zufluchtsort wurde. Bezirksstadträtin Jutta Kaddatz wird später darauf hinweisen, dass sie sich freue, einige ehemalige Mitarbeiterinnen ihrer Abteilung im Publikum entdeckt zu haben, was von ihrer starken Bindung an die Nachbarschaft zeuge.

"Beispielhafte Zusammenarbeit zwischen Bund, Land und Bezirk"

Als wolle die Band die Brücke zwischen den Generationen festigen, erklingt jetzt Gershwins „Summertime“: geschrieben um 1935, erlebte das Stück durch Janis Joplins Auftritt auf Woodstock 1968 eine fulminante Renaissance.

Eigentlich aber geht der Name Rote Insel auf die 1910er und 20er Jahre zurück, in denen die Nachbarschaft eine besonders hohe Dichte von KPD- und SPD-Anhängern aufwies. Tragische Berühmtheit erlangte von ihnen vor allem Julius Leber, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der im letzten Kriegsjahr zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Es gehe bei dem Parcours auch darum, die Vorstellungskraft der Besucher dazu anzuregen, sich in die Umstände hineinzuversetzen, unter denen Leber und seine Kreise unter Einsatz ihres Lebens konspirierten, wie Jörn Oltmann, Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung und Bauen, in kurzer Ansprache unterstreicht. Das Projekt, sagt Oltmann, sei ein Beispiel für die in Berlin beispielhafte Zusammenarbeit zwischen Bund, Land und Bezirk. In diesem Sinne erklärt auch Hendrik Hübscher von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, wie unüblich die Förderung dieses Projektes aus Sicht der üblichen Förderstrukturen sei – erst die Einrichtung eines Förderprogramms, das nicht themen- sondern raumbezogen agieren könne, habe dies ermöglicht.

Vor den Ansprachen erklingt aber noch „Girl from Ipanema“ von Stan Getz und Astrud Gilberto, das an die Zeit erinnert, in der Lindon B. Johnson Nordbrasilien im heroisch überzeichneten Kampf gegen den Kommunismus zum „Trouble Spot“, also zur Problemzone erklärte.

Jazz und die Geschichte des Widerstands

Aber warum eigentlich der ganze Jazz? Nun, nicht nur weil auch der Jazz bekanntermaßen eine Geschichte des Widerstands in sich trägt, sondern weil einer der Standorte einem gewissen Alfred Lion gewidmet ist. Dieser Alfred Lion, Sohn einer jüdischen Mutter, floh 1933 vor den Nazis über Chile in die USA, deren Staatsbürgerschaft er rasch annahm. Und wo er bald darauf zusammen mit Francis Wolff das legendäre Jazzlabel „Blue Note“ gründete, das die Jazzgeschichte geprägt hat, wie kein anderes. Kuriose Überraschung im Rahmen der Vorrecherchen zum Parcours, erzählt Kuratorin Johanna Muschelknautz, war die Entdeckung, dass Alfred Lion gar nicht in der unweit gelegenen Gotenstraße 7 zur Welt gekommen war, wie bislang angenommen, sondern in der Wielandstraße 22 in Friedenau. Der Benennung des Alfred-Lion-Steges liegt also ein historischer Irrtum zugrunde.

Der Parcours umfasst 19 Stationen, von denen auch jede für sich funktionieren soll. Folgt man aber der Strecke ganz, ergibt sich ein tieferer Eindruck von den geschichtlichen Zusammenhängen. Die Tour dauert etwa zwei Stunden in gemächlichem Tempo. In Rathaus und den Schöneberger Museen soll ein Übersichtsplan kostenfrei erhältlich sein sowie ein Heft mit ausführlichen Erklärungen als Beitrag zur Barrierefreiheit: wer die Strecke körperlich nicht absolvieren kann, erhalte hierüber äquivalente Information, erklärt Kaddatz. Jede Tafel entlang der Strecke enthält außerdem einen QR-Code. Dieser soll das Vorlesenlassen der Tafeltexte via Internet ermöglichen.

Dass nur der südlich der Kolonnenstraße gelegene Teil der Roten Insel in der Tour berücksichtigt wurde, habe praktische Gründe, erzählt Muschelknautz, etwa eine sinnvolle Weglänge oder die bessere Verfügbarkeit von Dokumaterial im Vergleich zum Nordteil.

Auch Marlene Dietrichs Geburtshaus ist eine Station der Tour. Das Gebäude in der Leberstraße 65 zierten zuvor bereits zwei Tafeln. Dass durch seinen Einbezug in den Parcours eine dritte hinzugekommen ist, sei damit zu erklären, dass diese vor allem auf die Antifaschistin Dietrich fokussiere. Unvorstellbar, sagt Muschelknautz, wie die Dietrich damals von den Nazis angefeindet wurde. „Oder vielleicht doch wieder vorstellbar, angesichts der neuen Wutbürger.“

Alle Informationen zur Tour finden Sie unter diesem Link.

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