zum Hauptinhalt
"Geschichte 2009-2017 verschwunden unter Dämmplatten" von Künstlerin Ingrid Göttlicher nach der Sanierung des Nachbarhauses.

© Thilo Rückeis

Berlin-Pankow: Ein Wandbild mit Geschichte

In der Schönhauser Allee 55 steht Prenzlauer Bergs ältestes Wohnhaus. Im Hinterhof wird jetzt ein Wandbild mit der Geschichte des Gebäude wieder übergeben.

Höhenangst hat Ingrid Göttlicher nicht, sonst hätte sie vor zehn Jahren wohl nie das Angebot angenommen, eine Brandschutzmauer von oben bis unten vollzuschreiben. „Allerdings war das Gerüst mit Plastik abgedeckt“, sagt sie und lacht. „Aber trotzdem: Vor sich hat man 30 Zentimeter Abstand zur Wand.“

Zehn Wochen stand die Konzeptkünstlerin damals auf dem Baugerüst in einem Hinterhof Prenzlauer Bergs, bewaffnet mit Pinsel und Acrylfarbe. Und natürlich einem Konzept: Denn das Haus in der Schönhauser Allee 55 ist nicht irgendein Haus, es ist das älteste noch erhaltene Wohnhaus im Stadtteil. Und dessen Geschichte brachte Göttlicher damals mit Buchstabenschablonen auf die Fassade.

Mit dem Haus verbindet Ingrid Göttlicher eine ganz eigene Geschichte: 2005 stellte der damalige Eigentümer ihr und sieben anderen Künstlern das ganze denkmalgeschützte Vorderhaus für Ateliers zur Verfügung – kostenfrei. Sie durften als Zwischennutzer bleiben, dafür führten die Künstler interessierte Käufer des Hauses durch die Wohnungen. „Die Fabrikgebäude im Hinterhof waren damals noch ziemlich abgewrackt“, erinnert sich Göttlicher. Trotzdem, nach zwei Jahren kaufte die New Yorker Familie Krauss das gesamte Haus, die Künstler mussten wieder ausziehen.

Künstlerin Ingrid Göttlicher vor ihrem neuen Wandbild im Hof vom denkmalgeschützten Wohnhaus, Schönhauser Allee 55.
Künstlerin Ingrid Göttlicher vor ihrem neuen Wandbild im Hof vom denkmalgeschützten Wohnhaus, Schönhauser Allee 55.

© Thilo Rückeis

Eine Brandmauer mit Geschichte

Göttlicher aber hinterließ ihre Spuren, und zwar großflächig: Der mit der Sanierung beauftragte Architekt fragte sie, ob sie mit der Brandschutzmauer im Hof etwas anfangen könne. Konnte sie. Und wusste bereits beim ersten Blick an die Wand, dass sie diese mit der Geschichte des Hauses beschreiben würde.

Sie recherchierte ein Jahr lang in Archiven, der Historie stellte sie Zitate aus „Die Geschichte der Liebe“ gegenüber, einem Buch der Schriftstellerin Nicole Krauss – der Schwester des neuen Eigentümers. „Krauss hat fiktiv geschrieben, aber auch sehr poetisch – das wollte ich dem profanen Geschichtstext gegenüberstellen“, erklärt Göttlicher. Nach zehn Wochen Arbeit auf dem Gerüst wurde 2009 das Wandbild enthüllt. Doch nichts ist für die Ewigkeit: Im vorigen Jahr wurde das Nachbarhaus – zu dem die Mauer gehört – saniert, Göttlichers Wandschrift verschwand unter Dämmplatten.

„In dem Moment war ich etwas wehmütig, aber: Alles ist vergänglich“, sagt sie. Nun hat sie ihr Werk auf Wunsch des neuen Eigentümers in verkleinerter Form erneut aufgemalt, am Montag, dem 16. September, wird das Kunstwerk feierlich übergeben. Allerdings nicht mehr in einem „abgewrackten“ Hinterhof: Große Fensterfronten auf der historisch sanierten Klinkerfassade lassen schon von außen luxuriöse Lofts erahnen – vielleicht nicht für jeden etwas, die Kaufpreise überschreiten teilweise knapp die Grenze zum Siebenstelligen. Geringfügig günstiger wird es im Vorderhaus, wo direkt vor dem Fenster die Züge der U2 entlangrattern.

Ackerparzelle, Wäschefabrik, Volkseigentum

Kaum vorstellbar ist heutzutage, dass dieses Haus einst als Sommersitz der Erholung diente. 1828 wird die heutige Schönhauser Allee, ein damals von Ackerflächen gesäumter Landweg vor den Toren Berlins, gerade gepflastert – da verkauft der Großgrundbesitzer Wilhelm Griebenow nach und nach seine Parzellen.

Die heutige Nummer 55 wechselt ein paar Mal den Eigentümer, bis der Steinmetzmeister Rudolph Müller auf dem Grundstück 1858 seinen Sommerwohnsitz baut, inmitten von Brauereien und Biergärten. Kurz vor der Jahrhundertwende erwirbt der jüdische Kaufmann Hermann Eitig das Grundstück und bebaut den Hinterhof, dort entsteht eine Wäschefabrik.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nimmt der Betreiber der Wäschefabrik Curt Löblich mit einer arischen Abstammungserklärung sein Vorkaufsrecht für das Haus wahr, die bisherigen Besitzer und Erben Eitigs wandern teilweise nach Shanghai aus, teilweise werden sie deportiert. Im Jahr 2000 wird das Haus, zu DDR-Zeiten „Volkseigentum“ mit Metallmöbelfabrik, Tischlerei und Kerzenzieherei, an eine in New York gegründete jüdische Organisation rückübertragen.

All das kann nun wieder auf der Brandschutzmauer im Hof nachgelesen werden, auch die Namen der ermordeten Eitigs. Der Sanierung zum Opfer gefallen ist hingegen ein Zitat aus Nicole Krauss' Roman, das nach Göttlichers Auffassung sehr zur jüdischen Geschichte des Hauses passt: „Verzeih mir.“

Ingrid Göttlichers Wandgemälde im Hinterhof des Gebäudes in der Schönhauser Allee 55 in Prenzlauer Berg wird am Montag, dem 17. September um 18 Uhr feierlich übergeben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false