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Die Künstlerin des Projekts "The Letting Go", Natascha Stellmach, in ihrer Wohnung in Berlin-Neukölln.

© Thilo Rückeis

Berlin-Neukölln: Tätowieren für die Selbsterkenntnis

Eine Künstlerin in Neukölln tätowiert mit Blut – zur Heilung. Die Idee: etwas aus dem Inneren, ein Makel, wird nach Außen geholt und sichtbar gemacht.

Die Augen sind geschlossen, aus dem Nebenzimmer ist entspannter Jazz zu hören. Natascha Stellmach hat die Hände des Besuchers in ihre genommen und spricht leise: Man solle alles um sich herum ausblenden, sagt sie, langsam und tief ein- und ausatmen, sich ganz auf den Moment konzentrieren.

Was anmutet wie eine spirituelle Sitzung, ist die Einstimmung zu einem außergewöhnlichen Projekt der Berliner Künstlerin Natascha Stellmach, das sie „The Letting Go“ nennt. „Was möchtest du loslassen?“ fragt sie dann auch schließlich. Die Antwort – ein Wort, ein Begriff, der einen empfundenen Schwachpunkt beschreibt – wird sie im nächsten Schritt tätowieren. An einer Stelle des Körpers, die man selbst wählt.

Natascha Stellmach tätowiert jedoch nicht mit Tinte. Das Wort, das man von ihr in die Haut eingeschrieben bekommt, entsteht allein durch die Verletzungen des Tätowiergerätes, ist also ein Tattoo aus dem eigenen Blut. Und es ist kein Hautschmuck für die Ewigkeit, sondern ganz bewusst nur eine vergängliche Körpermarkierung. Die Heilung der Wunde, das Verschwinden des Bluttattoos, dauert dann je nach Heilungsfähigkeit der Haut unterschiedlich lange – zwischen zehn Tagen und zwölf Monaten, sagt Stellmach.

Mischung aus Kunsthappening, Ritual und Therapie

Seit sechs Jahren bietet die Künstlerin „The Letting Go“ an. Zunächst begann sie damit im Rahmen von Performances bei Galerie- und Museumsausstellungen. Seit zwei Jahren bietet sie auch private Sessions an, die meist in ihren Neuköllner Räumen durchgeführt werden.

Das Ganze ist eine Mischung aus Kunsthappening, Ritual und Therapie. Die Idee: etwas aus dem Inneren, aus der Psyche, etwas ganz Persönliches und Intimes, wird in einem schmerzhaften Prozess nach Außen geholt und in Form einer Wunde sichtbar gemacht. Sichtbar für sich selbst, vielleicht aber auch für andere. Stellmach fotografiert üblicherweise jedes ihrer Bluttattoos. Man sieht auf ihren Bildern etwa eine Frau, die sich nach vorne gebeugt an eine Wand lehnt und sich auf den Nacken „Culpa“ hat stechen lassen – Schuld. Oder einen männlichen Oberschenkel, auf dem in roten Lettern der Berliner Begriff „Nulpe“ – also Dummkopf oder Versager – zu lesen ist. Welches herkömmliche Tattoo aus Tinte könnte es mit der Aussagekraft solch schlichter Begriffe, geschrieben mit dem eigenen Blut, aufnehmen?

„Die eigene Verletzlichkeit wahrzunehmen“, darum gehe es bei dieser Arbeit, erklärt Natascha Stellmach, „zu spüren, dass man Mensch ist.“ Das Feedback sei durchweg positiv. „Viele sagen mir, das Ereignis und der Heilungsprozess habe ihre Sicht auf sich selbst verändert.“

Projektausstellung

Stellmach ist Australierin, lebt aber den Großteil des Jahres in Berlin. Als Künstlerin hat die 48-Jährige sich nicht auf ein bestimmtes Ausdrucksmittel festgelegt, sie arbeitet mit unterschiedlichen Medien und Materialien. In einer aktuell laufenden Gruppenausstellung in der Galerie Wagner + Partner zeigt sie etwa „Love Bites“ – Abdrücke von Bissen auf handgeschöpftem Papier, entstanden direkt nach dem Sex. Trotz der Vielfalt ihrer künstlerischen Ansätze: „Das Spiel mit Wörtern und die Beschäftigung mit Vergänglichkeit und Intimität“, so sagt sie, seien wiederkehrende Themen ihrer Arbeiten.

Das zeigt auch ihre Arbeit „Oracle“. In einem der Zimmer ihrer Wohnung, das sie das „Goldene Zimmer“ nennt und das ganz in Gold gehalten ist, hängen sechs Objekte aus diesem Projekt. Frottagen auf Goldpapier, auf denen sich zart Wörter abzeichnen. Zusammen mit ihrem Künstlerkollegen Boris Eldagsen habe sie die Grabsteine toter Berühmtheiten besucht und aus den Inschriften Anagramme kreiert. Oder, wie sie anmerkt: „von den Toten aus dem Jenseits zuflüstern lassen“. Jim Morrison hat demnach „Orgasms Die“ aus seinem Grab übermittelt und von Oscar Wilde konnte sie erfahren: „Words Lie“.

Das Tätowieren musste sie dafür erst lernen. Seitdem werde sie selbst manchmal als Tätowiererin wahrgenommen, was sie freilich nicht sein will. Letztendlich geht es bei dem Projekt weniger um das Tätowieren, sagt sie, „sondern um Selbsterkenntnis“.

Ausstellung bei Wagner + Partner, Koppenplatz 5-6. Noch bis 17. November, Mi-Sa 13-18 Uhr. Infos unter www.thelettinggo.net

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