zum Hauptinhalt
Die Neuköllner Rütli-Schule im Jahr 2016.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlin-Neukölln: Komm, wir gehen an die Brennpunktschule

Früher galt sie als Resteschule, dann beschloss eine Gruppe Eltern: Geben wir ihr eine Chance. Jetzt wollen alle dorthin.

Gleich beginnt die Unterrichtsstunde von Frau Fleischmann, raunen sich zwei junge Frauen zu. Die soll ganz besonders toll sein. Heute dürfen Eltern beim Unterricht zugucken, es ist Tag der offenen Tür an der Neuköllner Karlsgartenschule. Und der Andrang ist riesig. Während im Hintergrund kichernde Mädchen mit bunten Kopftüchern vorbeiflitzen, drängen sich vor dem Infostand die Akademikereltern.

Im Nebenraum beantwortet Christine Mallon Fragen. Nein, sagt die Schulleiterin, sie könne nicht alle Kinder aufnehmen. Ja, es entscheide das Los. Nein, da könne man gar nichts machen. Etwa 30 Väter und Mütter sind im Raum, manche haben Babys dabei, einige stehen, weil es nicht genügend Stühle für alle gibt.

Was ist mit Quereinsteigern? Fällt viel Unterricht aus? "Gute Lehrer und Erzieher suchen wir hier auch", sagt Mallon. Die Personalplanung ist zur Zeit eine ihrer größten Sorgen. Die der Eltern ist: Wie bekomme ich einen Platz an dieser Grundschule?

Kaum einer wollte freiwillig seine Kinder hier einschulen

Die Berliner Karlsgartenschule ist die drittbeliebteste öffentliche Grundschule im Bezirk Neukölln. Eine Schule, für die Familien schon mal einen Anwalt beauftragen, um an einen Platz zu kommen. In diesem Jahr standen 40 Kinder auf der Liste, die alle nicht im Einzugsgebiet wohnen. Am Ende konnte das Schulamt fünf Plätze verlosen. Gemessen am Andrang an diesem Tag der offenen Tür Ende Mai, dürfte das Interesse im kommenden Jahr weiter steigen.

Und das ist eine erstaunliche Entwicklung. Denn dass die Karlsgartenschule jemals Kinder ablehnen muss, hat noch vor ein paar Jahren niemand gedacht. Hier wollte keiner freiwillig sein Kind anmelden. 

Die Fragestunde ist vorbei, Mallon sitzt wieder in ihrem Büro, füllt Tabellen aus, wann welche Klasse Schulhofdienst hat. Alle paar Minuten klopft es an der Tür. Mallon ist seit einem Jahr Schulleiterin. Als sie vor zehn Jahren als Lehrerin an die Schule kam, sah hier alles anders aus. Damals verzweifelten die Kollegen an den Schülern. Es wurde viel gebrüllt und wenig gelernt. "Früher gab es hier keine Disziplin", sagt Mallon. "Das war schon krass."

Was ist passiert, dass diese Neuköllner Problemschule zum Anziehungspunkt für gut verdienende Mittelschichtseltern geworden ist?

Es gab keinen Brandbrief, keinen Notruf, wie ihn die Lehrer der in der Nähe liegenden Rütlischule im März 2006 schrieben. Es gab auch kein eigenes vom Senat verordnetes Förderprogramm für die Karlsgartenschule. Keine gezielten Aktionen der Schulleitung, um die begehrten Eltern an die Schule zu locken. Aber es gab eine Gruppe engagierter Eltern.

Allen voran Susann Worschech. Sie verteilt an diesem Tag Streuselkuchen und Filterkaffee an die neugierigen Eltern, erklärt, wo welches Klassenzimmer liegt, wie das Hortkonzept der Schule funktioniert und warum die Karlsgartenschule ihrer Meinung nach die beste der Stadt sei.

Geben wir der Kiezschule eine Chance!

Worschech ist 38 Jahre alt, Sozialwissenschaftlerin, verheiratet, hat drei Kinder. Eine freundliche Frau mit bunten Kleidern und kurzen rotblonden Locken. Eine, die anpackt. Und die andere mitziehen kann, wenn sie will.

2012 sollte ihre älteste Tochter eingeschult werden. Die Familie bewarb sich ein Jahr vorher an der evangelischen Privatschule, landete aber nur auf der Warteliste. Zugewiesen wurde die Karlsgartenschule. Die Brennpunktschule um die Ecke, 90 Prozent der Kinder hatten eine Lernmittelbefreiung, also zu wenig Geld, die Schulmaterialien selbst zu bezahlen. Es war die Zeit, die Schulleiterin Mallon als "schon krass" bezeichnet. "Viele Eltern fuhren ihre Kinder lieber mit dem Auto in andere Bezirke, als sich die Karlsgartenschule auch nur anzuschauen", sagt Worschech.

Aber sie wollte, dass ihre Tochter in der Nachbarschaft zur Schule geht. Und da es mit der evangelischen nicht geklappt hatte, war die einzige Lösung: Geben wir der Kiezschule eine Chance!

In welcher Blase wachsen unsere Kinder auf?

Die Karlsgartenschule liegt am Rande des Schillerkiezes, einem Viertel im Nordwesten Neuköllns, früher eine Armeleutegegend. Nach der Stilllegung des Flughafens Tempelhof im Jahr 2008 änderte sich das rasant. Der Kiez ist heute einer der beliebtesten der Stadt. Die Mieten sind nach Angaben des Berliner Wohnmarkt-Reports seit 2009 um 121 Prozent gestiegen. Durchschnittlich 11,70 Euro müssen Mieter inzwischen für den Quadratmeter zahlen. Und die Schulhofrealität ist wie in allen stark gentrifizierten Vierteln besonders verzerrt.

Auf den Spielplätzen turnen kleine Friedrichs, Friedas und Elisabeths in teuren, schadstofffreien Ökokleidern. Aber auf dem Pausenhof nebenan heißen die Kinder Ali, Ahmad oder Nour und tragen Polyester in Prinzessinnenpink und Actionheldgraublau, weil das gerade bei Aldi im Angebot ist. Die Menschen wohnen Tür an Tür und leben gleichzeitig in verschiedenen Welten.

Seit Neukölln so beliebt ist, wollen immer mehr Menschen ihre Kinder nicht auf die Einzugsschule schicken. Beim Schulamt landen jedes Jahr mehr Widersprüche gegen die Schulplatzvergabe und auch mehr Briefe von Anwälten.

Diese soziale Spaltung an Grundschulen ist ein Problem. Denn die Kinder aus sozial schwachen und oft problematischen Haushalten bleiben unter sich, genauso wie die bessergestellten. Den einen fehlen sprachliche Vorbilder, den anderen ein Gespür dafür, dass es nicht allen Kindern so gutgeht, wie ihnen selbst. Die Gesellschaft teilt sich bereits für die Kleinsten.

"Ich wollte da nicht mitmachen", sagt Worschech. Ihre Idee: Wenn sie genug Eltern aus ihrem Umfeld zusammenbekäme, die ähnlich denken und alle gemeinsam ihre Kinder anmeldeten, könnten sie die soziale Durchmischung quasi erzwingen. Bildungseltern kapern die Problemschule. Davon könnten alle profitieren. Also hängte sie Zettel auf, in Kinderläden, im Viertel, in Kiosken. "Zum ersten Treffen kamen 30 Eltern", sagt sie, mehr, als sie erwartet hatte. Und in Worschech erwachte der Idealismus.

Das Leben im Kiez als gesellschaftliches Training

Wie soll eine Schule gute Bildungsarbeit leisten, wenn sie zur Resteschule wird? In welcher Blase wachsen unsere Kinder auf, wenn sie nur unter sich sind? "In unserer heterogenen Gesellschaft brauchen wir Ambiguitätstoleranz", sagt Worschech heute und schwärmt von der Stärke des Kiezes. Von der kleinsten Einheit der Demokratie, der "Gemeinde als Schule der Freiheit", wie sie, ganz Sozialwissenschaftlerin, den französischen Publizisten Alexis de Tocqueville zitiert.

Worschech ist der Meinung: Wenn ich in meinem sozial durchmischten Kiez zurechtkomme und verschiedene Lebenswelten kennen und tolerieren lerne, dann kann auch unser gesamtgesellschaftliches Zusammenleben funktionieren. 

Anfangs hatte auch sie Bedenken: Findet mein Kind Freunde? Wird es gute Lernerfolge erzielen? Behindern Kinder mit schlechtem Deutsch die Sprachentwicklung meines eigenen Kindes? Aber ihre Idee gefiel ihr immer besser. Als sie einen Nachrückerplatz an der evangelischen Privatschule bekam, lehnte sie ihn ab.  

Aus dem Elterntreffen entwickelte sich die Initiative "Kiezschule für alle". Sie warb dafür, die Kinder an der Kiezschule anzumelden. Und sie traf auf offene Ohren. Denn ihre neuen Nachbarn im Schillerkiez bekamen auch Kinder, die nicht alle auf die evangelische Schule konnten. Am Ende fand sich eine Gruppe von fünf Familien, inklusive Worschechs eigener, die das Experiment gemeinsam wagten. Mit jedem Schuljahr kamen neue dazu.    

"Natürlich gab es auch Schwierigkeiten", sagt Worschech. Die alte Elternvertretung etwa blickte zunächst skeptisch auf diese Gruppe neuer Eltern, die auf einmal so eng mit der Schulleitung zusammenarbeiteten. Hielten die sich für was Besseres? Aber inzwischen habe sich die Elternschaft zusammengerauft, sagt sie. Ja, es seien vor allem die neuen Eltern, die sich engagieren. Aber das fänden jetzt auch die anderen Eltern gut. 

Die Schulleitung muss inzwischen schon aufpassen, nicht übers Ziel hinauszuschießen: Wenn der Anteil an Kindern mit Lernmittelbefreiung unter 75 Prozent sinkt, streicht der Senat die Brennpunktförderung. Gerade liegt er bei um die 80 Prozent. Noch ist die Karlsgartenschule offiziell eine Problemschule.

"Und hat bei deiner Tochter alles gut geklappt?", will eine Mutter am Infostand wissen. Worschech kann wieder nur schwärmen. "Wir haben die beste Schule Berlins direkt vor der Nase", sagt sie. Die Tochter wechselt zum neuen Schuljahr aufs Gymnasium. Der mittlere Sohn bleibt noch, heute hat er wieder eine Eins in Mathe nach Hause gebracht. Die kleinste Tochter wird nach den Ferien eingeschult. Und die ganze Kita würde am liebsten mitkommen. Die Elternströme im Kiez fließen jetzt nicht mehr weg von der Schule, sondern hin. 

Der Erfolg der einen ist der Fluch der anderen

Die Neuköllner Rütli-Schule im Jahr 2016.
Die Neuköllner Rütli-Schule im Jahr 2016.

© Doris Spiekermann-Klaas

Doch die Erfolgsgeschichte der Kiezschulinitiative hat auch eine Schattenseite. Sie liegt 650 Meter entfernt. Hier steht, in einer ruhigen Nebenstraße, die Karl-Weise-Schule. Die mit dem schlechten Ruf. Hier will sich heute keiner einklagen, hier fragen Eltern eher die Anwälte, wie sie eine Einschulung an der Schule verhindern können.

Die Lehrer sollen unmotiviert sein. Der Schulhof ist nicht so schön grün wie der der Karlsgartenschule. Aber vor allem: Die Kinder sollen kaum zu bändigen sein. Eine echte Brennpunktschule halt. So sagt man zumindest auf den Spielplätzen.

Nur: Die Kiezschulinitiative warb 2011 für beide Schulen. Unter den Eltern, die gemeinsam mit Worschech etwas verändern wollten, war auch eine Gruppe, die der Karl-Weise-Schule zugeteilt war. Auch hier meldeten Akademikereltern bewusst ihre Kinder an. Auch hier wollten sie ein Zeichen setzen, gegen das Verhalten, das Soziologen als Schulflucht bezeichnen, die ZEIT berichtete damals darüber.    

An der Karl-Weise-Schule hat es nicht geklappt

Die Karl-Weise-Schule liegt zwischen der Schillerpromenade, der Ader des Schillerkiezes, und einer kleineren ruhigen Nebenstraße. Ein 113-jähriger Altbau mit großem Hof und Spielgelände. Am Sandkasten steht das Wort Licht, auf der gegenüberliegenden Seite bilden große Betonbuchstaben das Wort Schatten. Ein altes Kunstprojekt, eine Referenz auf die Dialektik des Lebens, die sich auch in der Geschichte dieser beiden Kiezschulen zeigt.

Auf dem Boden liegt ein angebissenes Pausenbrot mit Marmelade, eine rosa Jacke hängt verlassen über einer Mauer. Nur in einer Ecke spielen ein paar wenige Kinder mit einem aufblasbaren Planschbecken. Die Sommerferien haben angefangen. 

Im ersten Stock sitzen Andrea Schwenn und Catrin Schwarz-Herbst, Schulleiterin und Konrektorin, an ihren Schreibtischen. Sie treffen die letzten Vorbereitungen, basteln am Stundenplan für das kommende Schuljahr. Die Frauen sind gut gelaunt, sie schwärmen vom Schulfest, die letzten Tage waren schön. Natürlich kennen sie den Ruf ihrer Schule. "Wir nehmen das nicht einfach hin. Wir versuchen, etwas zu ändern", sagt Schwenn. Aber das klappt nicht so recht. In den letzten Jahren hat sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft kaum verändert.

"Wir sehen am Eisladen, welche Familien jetzt hier wohnen. Aber diese Familien kommen nicht bei uns in den Klassenzimmern an", sagt sie und klingt nicht frustriert oder verärgert. Sie stellt es einfach fest. Und sie sagt auch: "Wir sind eben kein Einwanderungsland." Das Miteinander der Kulturen sei bei uns nicht selbstverständlich, die Eltern blieben lieber unter sich. Und die Familien vom Eisladen wollen eben alle an die Karlsgartenschule. Der Erfolg der einen Schule ist der Fluch der anderen. 

Warum schlug die Initiative hier nicht an? Die Kinder, die damals hier angemeldet wurden, sind alle abgegangen. Entweder auf andere Grundschulen, oder sie wechselten vorzeitig aufs Gymnasium.

"Die kritische Masse ist erreicht"

Fragt man Schwenn, woran das liegt, sagt sie: Das war eine Kettenreaktion. Meldete sich einer von zwei Jungs deutscher Herkunft wieder ab, war der zweite kurz darauf auch weg. Tatsächlich hatten sich weniger Akademikereltern an ihrer Schule gemeldet als an der Karlsgartenschule, es waren pro Jahr zwei, drei Familien. Schwarz-Herbst, die Konrektorin, die erst seit zwei Jahren an der Schule ist, sagt, die Eltern entschieden sich vor allem gegen den gebundenen Ganztag an ihrer Schule. "Das schränkt die Gestaltungsfreiheit der Eltern ein, sie können nicht entscheiden, wie ihr Kind die Nachmittage verbringt." Gerade bildungsbewussten Eltern sei das aber wichtig. Die wollen ihr Kind zum Musikunterricht schicken oder in den Sportverein.

Fragt man Eltern, die von der Karl-Weise- auf die Karlsgartenschule gewechselt haben, sagen sie: Die Lehrer an der Karlsgartenschule sind engagierter, die Schule ist moderner, die Atmosphäre ist besser.

Fragt man Christine Mallon, die Schulleiterin der Karlsgartenschule, sagt sie, die Atmosphäre habe sich aber nicht unbedingt wegen der neuen Kinder aus gutem Hause gedreht, sondern weil sie das jahrgangsübergreifende Lernen eingeführt haben. In den JüL-Klassen lernen Kinder der Klassenstufen 1-3 und 4-6 jeweils gemeinsam. "Dadurch haben wir nicht mehr zehn pubertierende Jungs in einer Klasse, sondern nur noch drei. Die haben wir besser im Griff."

Fragt man Worschech, sagt sie: Es braucht auch ein bisschen Glück. Die richtigen Eltern müssen zum richtigen Zeitpunkt an eine Schulleitung geraten, die offen ist für Veränderung und gemeinsame Gestaltung. Vielleicht klappt das nicht immer im ersten Anlauf. "Aber zivilgesellschaftliches Engagement kann etwas bewirken", da ist sie sich sicher. Ihre Schule sei das beste Beispiel. Und irgendwo müssten die neu zugezogenen Eltern im Schillerkiez ihre Kinder doch einschulen. "Die kritische Masse ist erreicht", sagt Worschech.

Sie kommen nicht freiwillig, aber sie kommen

An Schwenns Bürotür klopft an diesem ersten Ferientag eine junge Frau. Eine neue Kollegin. Sie freut sich auf das kommende Schuljahr, hat letzte Fragen. Schwenn freut sich über die neue Lehrerin. Gerade fühlt sich vieles nach Veränderung an. Die Webseite haben Schwenn und Schwarz-Herbst neu gestalten lassen, ihr Büro haben sie umgeräumt, das Toilettengebäude wird saniert, die Bemalung des Haupteingangs ist als Nächstes dran.  

Und tatsächlich wandelt sich, zögerlich, auch hier die Elternschaft. Jetzt, wo die Kapazitäten der Karlsgartenschule erschöpft sind, haben Schwenn und Schwarz-Herbst mehr Kinder als sonst zugewiesen bekommen. "An den Vornamen kann man schon sehen, dass das andere Familien sind als in den letzten Jahren", sagt Schwarz-Herbst. Nach jetzigem Stand wären an der Karl-Weise-Schule alle Plätze belegt, das hat es lange nicht gegeben. Sie kommen nicht freiwillig, aber sie kommen.

Andrea Schwenn sagt zum Abschied: "Besuchen Sie uns in einem Jahr noch mal. Wer weiß, was bis dahin passiert ist."

Dieser Text erschien zuerst auf Zeit.de

Simone Gaul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false