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Der Fahnder. Seit 12 Jahren ermittelt Thomas Ruf schon in der Mordkommission.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlin-Moabit: Wo ist Georgine? Wie ein Fahnder seit 12 Jahren sucht und sucht

„Er und seine Kollegen werden nicht ruhen, bis der Fall geklärt ist“, schreibt die Polizei. Vor zwölf Jahren verschwand Georgine, 14 Jahre alt, in Berlin-Moabit. Es gibt keine Spur.

Georgine Krüger verschwindet an einem Herbsttag 2006. Sie steigt aus dem Bus an der Stendaler Straße in Moabit und ist weg. Und seitdem: nichts. Keine Lebenszeichen, keine Spur, keine Leiche, einfach nichts.

Als wäre das Mädchen verschluckt.

Wie oft Thomas Ruf in den vergangenen zwölf Jahren in der Stendaler Straße war, weiß er nicht – er war oft hier, sehr oft. Thomas Ruf ist Kriminalhauptkommissar, LKA 1 – „Delikte am Menschen“. Und als Sachbearbeiter in der Mordkommission ist er seit fast zwölf Jahren auf der Suche nach Georgine, dem Mädchen aus Moabit.

„Er und seine Kollegen werden nicht ruhen, bis der Fall geklärt ist“, hat die Berliner Polizei vor wenigen Tagen getwittert. Da stand Thomas Ruf gerade in Brieselang, westlich von Spandau, in einem Wald. Es ging um Hinweis Nr. 225.

Ein anonymer Anruf, wieder ein Tipp, wieder rücken sie aus

Ein anonymer Anrufer hatte sich über den Notruf mit der Polizei in Verbindung gesetzt. Er machte so schlüssige Angaben, dass Ruf und seine Kollegen entschieden, nach Brieselang zu fahren, in jenes Waldstück, das 5000 Quadratmeter groß ist und das sie nun Stück für Stück durchsuchten. Mit Leichenspürhunden und Drohne und 20 Polizisten. Vor Ort koordiniert Ruf als Sachbearbeiter hauptsächlich: Suchbereich abstecken, Kollegen einweisen und dann warten, was die Hunde anzeigen und die Kollegen melden. Doch am Abend ist klar: die Suchaktion war erfolglos. Die Absperrbänder werden entfernt, die Ausrüstung verstaut und dann sitzen sie im Auto. Vertieft in Gedanken oder im Gespräch über Banales.

Georgine. Vermisst seit zwölf Jahren, verschwunden in Moabit. Foto: Polizei
Georgine. Vermisst seit zwölf Jahren, verschwunden in Moabit. Foto: Polizei

© dpa

„Schade“, denkt Ruf im Auto, erzählt er später. Für einen Moment war sie wieder da, die Hoffnung. Wieder konnten er und seine Kollegen nicht herausfinden, was Georgine passiert ist. „Wir würden so eine Aktion nie abbrechen, wenn wir das Gefühl hätten, es gäbe vielleicht noch etwas, das wir übersehen haben.“ Sich auf diese Gründlichkeit verlassen zu können, gibt Ruf Kraft: „Jetzt warten wir auf die nächste Chance.“ Auf Hinweis Nr. 226.

Was treibt so einen Polizisten an, nach all den vielen Jahren? „Meine Motivation?“, fragt Thomas Ruf, „kommen Sie“.

Giuseppe Marcone - seine Motivation

Während er seinen Wagen durch den beginnenden Berliner Feierabendverkehr steuert, beginnt Ruf zu erzählen. Ganz ruhig, er erzählt die Geschichte nicht zum ersten Mal. Sie handelt von einem Jungen – beliebt, klug, hilfsbereit: Giuseppe Marcone. Auf dem Nachhauseweg von Freunden treffen Giuseppe und sein Kumpel im U-Bahnhof Kaiserdamm Jugendliche, die auf der Suche nach Streit sind. Sie provozieren, es fliegen Fäuste. Bei der Flucht vor den Tätern rennt Giuseppe über die Fahrspuren des nächtlichen Kaiserdamms. Er sieht das Auto nicht kommen, wird getroffen und stirbt noch am Unfallort. Das war im Jahr 2011 – ein Unglück, das die Stadt lange bewegt hat.

Heute schieben sich an dem Ort auf der Verkehrsinsel zwischen den Spuren des Kaiserdamms viele Menschen an dem hellblauen Betonkübel vorbei, in dem ein kleiner Baum gepflanzt ist. Darunter eine Plakette: „Möge sein Schicksal den Menschen Mahnung sein, einander mit Achtung und Respekt zu begegnen.“ Thomas Ruf steht davor und ringt um Worte. Er verzieht sein Gesicht. „Das hier“, sagt er, „das hier ist meine Motivation.“

Seit 21 Jahren in der Mordkommission

Kurz nach der Tat sprach Kriminalhauptkommissar Ruf mit der Familie des Jungen, eine Stimmung, die er nicht vergessen kann. Die Familie gründet eine Stiftung, mahnt ohne Verbitterung zu einem friedlichen Miteinander. „Es gibt Menschen, die viel, viel Schlimmeres ertragen und bewältigen müssen“, sagt Ruf und schiebt die Hände in die Hosentaschen. Er muss als Polizist nicht frustriert sein, wenn er mal nur langsam in einem Fall vorankommt. Die Leidtragenden sind die Angehörigen.

225 Hinweise im Fall Georgine. Menschen rufen an, weil sie fühlen, wo sich Georgine angeblich aufhält. Es melden sich Seher, Leute, die sich als Medium verstehen. Menschen rufen an, weil sie Georgine gesehen haben, tanzend auf einem Bollywoodfest in Westdeutschland – obwohl sie nur das Foto von 2006 kennen. Da war sie 14 Jahre alt. Und Menschen rufen an, weil sie wissen, wo Georgine begraben sein soll. So wie jetzt in Brieselang.

Die Suche nach Georgine Krüger ist kein Fall, den auch ein erfahrener Polizist an der Bürotür abstreift und hinter sich lässt, wenn er nach Hause fährt. Der ist immer da. Bei der Arbeit, bei der Familienfeier, im Urlaub. Zu mysteriös war ihr Verschwinden am helllichten Tag in Moabit, zu intensiv ist Rufs Kontakt zur Familie. Georgine war kein Mädchen, das einfach wegrennen würde. Am 25. September 2006 verschwand sie – zwei Tage danach begann die Mordkommission mit den Ermittlungen. Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Opfer von Tötungsdelikten sich im Umkreis zu dem Ort befinden, an dem sie verschwunden sind. 300 Gebäude, Dachstühle und Keller wurden tagelang durchsucht. „Wir hatten schnell den Verdacht, dass etwas Schlimmes passiert ist. Und konnten bis heute nicht klären, was an jenem 25. September passiert ist.“ Am Tag von Hinweis Nr. 1.

Seit 21 Jahren ermittelt Thomas Ruf schon in der Mordkommission. Georgine Krüger ist nicht alltäglich und Giuseppe Marcone war es auch nicht. „So ist unser Job, aber ich mache meinen Job wirklich verdammt gerne.“ Man trägt diesen Antrieb in sich oder nicht. Die Motivation wird nicht infrage gestellt oder erzeugt, sie ist einfach da. Jeder von Rufs Kollegen kann von einem solchen Fall berichten, der bleibt, der mehr Kraft kostet als andere. Und es war nicht die letzte Situation, in der Ruf der Lösung scheinbar so nahe war und doch wieder mit leeren Händen zur Familie geht. „Und dann muss ich weitermachen, den Mut nicht verlieren.“ Für sich, für Georgines Familie. Bis zum Hinweis Nr. 226.

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