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Illustration eines geplanten neuen Radwegs in Lichtenberg.

© Senatsverwaltung

Berlin-Lichtenberg: Wenn der Senat das "grüne Monster" bauen will

In einer Schule kommt es zum Showdown zwischen Befürwortern und Gegnern eines Radweges. Auch wenn nur wenige Parkplätze entfallen, hat es der Senat nicht leicht.

Rund 70 Menschen haben sich in einer Schule versammelt, die Diskussion ist von Beginn an heftig, lautstark, beleidigend – ständige Zwischenrufe, ein Senatsmitarbeiter wird als Kommunist beschimpft und jemand erinnert an den Bau der Mauer. Was ist da in Lichtenberg los? Antwort: In der Siegfriedstraße soll ein 500 Meter langer Radweg gebaut werden.

„Wenn Parkplätze wegfallen, ist die Aufregung immer groß“, weiß Horst Wohlfahrt von Alm, zuständig für die Planung von Straßen für die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Er hat an diesem Dienstagabend in der Schulmensa der Selma-Lagerlöf-Schule die schwierige Aufgabe, den Anwohnenden zu erläutern, warum der Senat ausgerechnet vor ihrer Haustür einen grünen, mit Pollern geschützten Radweg bauen möchte.

Ein älterer Herr versteht die Welt nicht mehr: Er habe in den letzten 40 Jahren in der Siegfriedstraße kaum Radfahrer gesehen. Ein Rentner kann das bestätigen: Er habe die Zeit gehabt, Autos und Radfahrer zu zählen – und verlangt vom Senat eine Statistik. „Für welche Radfahrer soll der Weg denn sein?“ Dass hier so wenige Rad fahren, liege daran, dass die Straße sehr gefährlich sei, erläutert von Alm.

Unverständnis schlägt ihm entgegen. Ein Anwohner unterbreitet den Vorschlag, keine Autos aus Brandenburg mehr in die Stadt zu lassen. Einen anderen erinnern diese Radweg-Poller und die Vorgehensweise des Senats an den Bau der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin. Betretenes Schweigen im Publikum.

Dann ergreift eine Frau das Wort, energisch und aufgebracht: Sie macht sich Sorgen, wie sie ihre pflegebedürftige Mutter ins Auto bekommen soll. Da weiß Wohlfahrt von Alm keinen Rat. Allerdings sei es derzeit wohl auch nicht einfach. Für Schwerbehinderte müssten Parkplätze geschaffen werden. Jedoch sei bisher kein Antrag gestellt worden – und in den Jahren zuvor auch nicht.

So sieht es derzeit aus in der Siegfriedstraße in Lichtenberg. Radfahrer wagen es kaum, zwischen Tram und parkenden Autos zu fahren - das ist gefährlich für alle Beteiligten.
So sieht es derzeit aus in der Siegfriedstraße in Lichtenberg. Radfahrer wagen es kaum, zwischen Tram und parkenden Autos zu fahren - das ist gefährlich für alle Beteiligten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Nach dem Bürgersteig kommt eine Baumreihe, dann die Parkplätze, dann die Straße mit der Tram. Zwischen Tram und Autotür radelt es sich äußerst gefährlich, hier ist kaum Platz. Der Radweg soll zwei Meter an jeder Seite bemessen, dazu jeweils ein halber Meter für die Plastikpoller. Rund 80 Parkplätze müssen weg, sagt Wohlfahrt von Alm. Laut einem Anwohner sind es zwar 400, aber, so entspinnt sich eine Diskussion: Da kommt es darauf an, wie breit die Autos sind und wie gut diese parken.

Ich fahre lieber Rad als Auto und begrüße Initiativen, das Radfahren zu erleichtern. Aber: Wenn man Parkplätze streicht, verlagert und verstärkt man Probleme in den Nebenstraßen. Autos kurven dann länger herum, um einen Parkplatz zu finden, und deren Fahrer sind genervt und fahren vielleicht einen Tick aggressiver.

schreibt NutzerIn Etepetete

Lichtenbergs Stadtrat für Umwelt und Verkehr, Wilfried Nünthel (CDU), hat es schwer, die Diskussion zu leiten. Mehrfach muss er um Ruhe bitten. Die Parkplätze würden in der anliegenden Rüdigerstraße wieder geschaffen – bis auf 10. Buh-Rufe aus dem Publikum. „Aber ich bitte Sie: Das ist doch ein geringer Preis dafür, dass die Leben der Radfahrer geschützt werden“, finden Stefan Taschner von den Grünen und Sebastian Schlüsselburg von den Linken, die sich unter die Bürger gemischt hatten. Unverständnis. Die Anwohner wollen nicht nur nicht weniger Parkbuchten, sondern fordern mehr. Doch stattdessen bekämen sie dieses „grüne Monster“ vor die Tür gesetzt.

„Wir wohnen hier!“

Bereits im Vorfeld der Veranstaltung hatte sich eine hitzige Diskussion angekündigt: Via Zettelaushang wurde Widerstand der Anwohner angekündigt. Sie sehen den Radweg als Prestigeobjekt für die Stadt, ältere Menschen würden diskriminiert. Und wie nur solle die Feuerwehr, der Krankenwagen oder der Pizza-Lieferant an die Haustüren gelangen. „Wir wohnen hier!“, ruft jemand von hinten. „Wir Radfahrer wohnen auch hier“, entgegnet jemand weiter vorne. Wohlfahrt von Alm versichert, dass die Feuerwehr im Notfall nicht vor den Pollern halt machen werde, die man einfach mit der Hand umknicken könne. Zudem wurde die Feuerwehr in die Planung einbezogen. Sie habe es, wenn die parkenden Autos nicht mehr da sind, sogar leichter, zu den Häusern zu kommen. Lieferdienste würden ohnehin in der zweiten Reihe halten. Und ältere Menschen seien durch den Radweg vor Gehwegradlern besser geschützt.

Die Schulmensa in Lichtenberg war voll: Umweltstadtrat Wilfried Nünthel (CDU) versucht, den Anwohnern den Radweg näher zu bringen.
Die Schulmensa in Lichtenberg war voll: Umweltstadtrat Wilfried Nünthel (CDU) versucht, den Anwohnern den Radweg näher zu bringen.

© Robert Klages

Wohlfahrt von Alm fährt schweres Geschütz auf: „Stellen Sie sich vor, ihre Kinder müssten hier auf der Straße Rad fahren!“. Gelächter aus dem Publikum. „Solange sich Autofahrer nicht an die Verkehrsregeln halten, bauen wir sichere Radwege.“ Gelächter aus dem Publikum. „Immer mehr junge Menschen fahren Rad, es ist ökologisch erwiesen …“ Ein Mann springt auf. Er als Autofahrer wolle sich nicht als Umweltsünder beschimpfen lassen. Sein Auto benötige er, um seine Familie zu ernähren, er müsse jeden Tag nach Cottbus zur Arbeit fahren.

Kein Recht auf einen kostenlosen Parkplatz

Nünthel versucht zu beruhigen: sein Auto müsse der Mann ja nicht aufgeben, sondern halt nur 200 Meter weiter weg parken. Eine Frau kontert: Es sei dann besonders für ältere Menschen beschwerlich, den Einkauf in die Wohnung zu bekommen. „Wer nicht mal 200 Meter gehen kann, sollte auch kein Auto mehr fahren“, meint ein Radfahrer. Niemand in der Stadt habe ein Recht auf einen kostenfreien Parkplatz vor der Tür. Leute, die kein Auto besitzen, müssten ja auch bis zur Tramstation laufen. Und ein Autofahrer stimmt zu: „Klar, uns Anwohnern gehört nicht die Straße. Wir sind halt nur besorgt.“

Wohlfahrt von Alm ist kein Freund solcher Diskussionen, aber er muss sie führen. Und er sagt es deutlich: „Wollen wir die Straße mit Blech zugestellt haben? Nein! Wir wollen Radfahrer gewinnen.“ Die Stadt wachse, man habe ohnehin schon ein Platzproblem und irgendwo müsse nun einmal mit dem Bau von geschützten Radwegen begonnen werden. Autos stünden 20 Stunden pro Tag rum, ein Radweg hingegen werde genutzt. „Und ein Parkplatz ist so groß wie ein Kinderzimmer“, wird er von einem jungen Mann mit einem Fahrradhelm ergänzt.

„Die Bäume müssen weg, dort kann der Radweg hin!“

Die Anwohner fordern Alternativvorschläge vom Senat. Könne der Radweg nicht auf dem Gehweg gebaut werden? Nünthel versucht zu begründen, dass das nicht gehe, man wolle den Gehweg nicht verkleinern. Und Wohlfahrt von Alm ergänzt, man wolle wirklich einen Radweg bauen, nicht nur lediglich die Situation vor Ort verbessern. „Die Bäume müssen weg, dort kann der Radweg hin!“, ruft jemand. Nünthel und Wohlfahrt von Alm schweigen. „Die brauchen wir zum Atmen“, ruft eine junge Frau im Wollpullover.

„Warum nicht die Edeka-Parkplätze nutzen?“ Die sind privat und die Eigentümer befürchten, dass die Autos dort auch tagsüber stehen bleiben, so Nünthel, aber das sei eine gute Idee. Etwas derartiges sei geplant „Sie haben den Radweg doch längst beschlossen, Sie hören uns nicht zu!“, wird immer wieder gerufen. „Sie wähle ich nie wieder!“ Beschlossen ist der Bau des Radweges noch nicht. Das entscheidet auch alleine das Bezirksamt, macht Nünthel deutlich. Die Stadt Berlin wolle noch viele solcher Radwegabschnitte bauen, sagt Wohlfahrt von Alm. Immer in kleinen Schritten, denn pro Abschnitt dürfe man jeweils nicht mehr als eine halbe Millionen Euro ausgeben, Projekte in dieser Gewichtsklasse ließen sich leichter umsetzen.

Das im Sommer 2018 verabschiedete Mobilitätsgesetz schreibt vor, dass Fuß-, Rad- und öffentlicher Nahverkehr bei Neuplanungen Vorrang haben. Das Netzwerk fahrradfreundliches Lichtenberg freut sich über den geplanten Radweg: „Seit Jahrzehnten ist der motorisierte Individualverkehr das Maß aller Dinge in der Verkehrsplanung. Wenn die Radfahrenden dann 2,5 Meter in einer Straße für sich beanspruchen, wirkt das für manche wie ein Affront", argumentiert Mattes Groeger, Sprecher des Netzwerks.

Anwohner haben sich nach der Veranstaltung durch ein Schreiben an Stadtrat Nünthel gewandt. Dieses und mehr News aus Lichtenberg gibt es am Montag im Tagesspiegel-Leute Newsletter - und selbstverständlich gibt es auch Newsletter für die anderen Bezirke: leute.tagesspiegel.de

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