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Noch ist die Ruhe trügerisch. Im April 1945 fotografierte Valery Faminsky diese Soldaten einer sowjetischen Panzerbrigade während einer kurzen Pause bei den Seelower Höhen.

© Valery Faminsky/ArthurBondarsPrivateCollection

Berlin-Bücher: "Gitler kaputt"

Berlin 1945: Fotograf Valery Faminsky zeigt Sieger wie Besiegte, Karin Felix erläutert russische Graffiti im Reichstag

Schon wie das Archiv des einstigen Kriegsfotografen Valery Faminsky entdeckt wurde, ist eine kleine Sensation. „2016 fand ich eine Online-Anzeige, in der die Negative eines sowjetischen Fotografen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zum Verkauf angeboten wurden“, erzählt der Moskauer Fotograf Arthur Bondar. Er reagierte sofort, traf sich mit der Anbieterin und erfuhr, dass Faminsky und dessen Frau verstorben waren, aber keiner der Verwandten mit dessen Archiv etwas anfangen konnte. Ein Verkauf an Museen scheiterte an mangelndem Budget: Schenkung sofort, aber kein Ankauf. „Ich sah mir einige der Negative an und begriff, dass ich ein bedeutendes Stück Geschichte in Händen hielt“, schreibt Bondar. „Während der Sowjetzeit erlebten wir sehr viel Propaganda und Zensur über den Zweiten Weltkrieg. Doch in diesem Moment sah ich in Faminskys Bildern eine persönliche und sehr viel menschlichere Wahrnehmung des Krieges. Sein humanistischer und künstlerischer Blick fokussierte sich auf das Schicksal der Menschen auf beiden Seiten des Konflikts.“

Das sah auch Thomas Gust von Buchkunst Berlin so, erwarb die Negative und schuf mit seinen Freunden ein in Auswahl und Aufmachung exzellentes Bilderbuch vom Ende und den Folgen des Krieges im zertrümmerten Berlin. Kein Pulverdampf aus den Rohren der Stalinorgeln, keine Heckenschützen, keine Panzer im Nahkampf - dies ist endlich vorbei, die Kriegsmaschinerie ist stillgelegt, der Krieg verabschiedet sich in die Vergangenheit. Die Soldaten sind glücklich, dass sie den Frühling mit seinem Fliederduft in Berlin erleben dürfen, andere werden lange noch mit ihren Verwundungen leben müssen.

Die Leiden der Verwundeten

Um das Leben und Leiden verwundeter Rotarmisten zu dokumentieren, war Faminsky Angehöriger der Lazarett-Abteilungen auf dem Weg nach Berlin geworden. Wo immer ein Kopfverband, ein Rotes Kreuz oder ein Soldat auf einer Trage zu sehen waren, konnte Valery mit seinen Kameras nicht weit sein. Er war seit 1943 Frontfotograf für die Kunstabteilung des Militärmedizinischen Museums der Roten Armee und diente bis zum Mai 1945 an sieben Frontabschnitten. Zumeist wurde der Fotojournalist an jene Abschnitte gesandt, in denen große Militäroperationen geplant waren. Vom 22. April bis 24. Mai begleitete er mit seinen Kameras die Einnahme der Berliner Vorstädte und der Innenstadt.

Ihm begegneten nicht nur Siegesjubel auf der einen, Hoffnungslosigkeit zwischen Trümmern auf der anderen Seite. Berlin im Mai 1945 - das sind auch lachende Gesichter deutscher Frauen und Kinder, denen das Ende des Krieges bekanntgegeben wird. Handwagen, auch Kinder- und Pferdewagen sind das Transportmittel jener Tage. Die Sieger paradieren oder posieren , manche frönen ihrem Hobby und malen eine Stadt, die keine mehr ist, zerschossen zu Schutt und Asche.

Der Historiker Peter Steinbach schreibt in seinem Vorwort: „Faminsky lässt Sieger und Besiegte zusammenrücken. Er stellt sie in die gemeinsame Zeit und deutet so gemeinsame Kriegserfahrungen an. Als Chronist des Leidens entwickelt er eine Perspektive, die sich grundlegend von der propagandistischen Überhöhung des Weltkriegs zum Großen Vaterländischen Krieg unterscheidet. Neben den steril anmutenden Siegesparaden wird das Leiden der Verletzten spürbar, die Verzweiflung der Kameraden, die Verletzte zum Lazarett schleppen, mit Wagen und Hundekarren. ...und wiederum wird das gemeinsame Leiden von Zivilisten und Rotarmisten deutlich, denn auch Deutsche schleppen ihre verletzten Angehörigen in geradezu verzweifelter Not durch die Straßen, bemüht, sie zu retten“.

Karin Felix, Besucherführerin im Reichstagsgebäude, erläutert die russische Graffitti.
Karin Felix, Besucherführerin im Reichstagsgebäude, erläutert die russische Graffitti.

© Mike Wolff

Der Reichstag, dieses von Granateinschlägen gezeichnete, dennoch unverwundbar scheinende Kolossalgebäude, war für die Rotarmisten die Höhle Adolf Hitlers, die Siegesfahne über dem Bau ein Synonym für „Gitler kaputt“. Diesem Bau ist eine Dokumentation ganz anderer Art gewidmet: „Ich war hier - Zdes' byl“ behandelt die Namens- und Schriftzüge, die Rotarmisten im Mai 1945 mit Holzkohle oder Kreide auf Säulen und Mauern geschrieben, gemalt oder gekritzelt hatten - als spontaner Ausdruck der Freude, nach Tausenden Kilometern Entbehrung und Geschützdonner das Herz der Reichshauptstadt erreicht, den Krieg als Sieger beendet zu haben. Da steht zum Beispiel: „Hier war der Kerl aus dem russischen Kuskovo - Mezetsev D. A.“ Ein gewisser Patsekof schrieb an die Ostwand der Plenarsaalebene: „Was du säst wirst du ernten“, an der Westwand verewigte sich neben vielen anderen ein Soldat Leonow, Ivan Gregorevich, von der Kolchose „Krasnyi veter“ (Roter Wind) aus dem Stalingrader Gebiet samt Adresse, und er bittet: „Pischije! Schreibt!“

Karin Felix, langjährige Besucherführerin im Reichstagsgebäude, hat die „sprechenden Wände“ übersetzt und versucht, den Spuren der Namen nachzugehen. Welch eine Arbeit! Und Genugtuung, wenn Besucher des Reichstages aus den Weiten Russlands plötzlich ihre Namen entdeckten - die sie einst, vor vielen Jahren, als Sieger auf die Mauern geschrieben hatten. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a. D., dankt Karin Felix für Ausdauer und Engagement: „Dass die Wände des Reichstages sprechen, das konnte man wissen. Dass man sie nun auch verstehen kann, dafür sorgt dieses Buch.“

Valery Faminsky: Berlin Mai 1945. Buchkunst Berlin. 184 Seiten, 114 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 45 Euro
Valery Faminsky: Berlin Mai 1945. Buchkunst Berlin. 184 Seiten, 114 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 45 Euro

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