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Pflegekräfte fordern einen "Entlastungstarifvertrag".

© Getty Images/iStockphoto

Exklusiv

Berichte der streikenden Pflegekräfte in Berlin: „Ich habe während der Schicht nicht getrunken – so musste ich nicht zur Toilette“

Im Tarifkampf an Berlins landeseigenen Kliniken von Charité und Vivantes haben die Streikenden am Montag der Politik die Lage auf den Stationen geschildert. Am Dienstag soll weiter verhandelt werden.

Acht, neun, zehn Stunden Schicht ohne Pause, überlastete Azubis und nur noch schlecht versorgte Patienten. Die streikenden Pflegekräfte haben Berliner Politikern am Montag heikle Berichte aus ihren Stationen vorgetragen. Dem Tagesspiegel liegen anonymisierte Auszüge vor.

"Ich war selbst erst seit zwei Wochen aus der Einarbeitung", beschreibt eine junge Intensivpflegekraft ihre Schicht, begleitet von einer "panischen Angst davor, einen Fehler zu machen". Die junge Pflegekraft habe mit einer Kollegin ohne Intensiverfahrung sechs Patienten in sechs Zimmern versorgen müssen. Demnach wurden drei der sechs Patienten beatmet, zwei wegen multiresistenter Erreger sowie wegen Covid-19 isoliert, eine Patientin befand sich in Chemotherapie.

Die Intensivpflegekraft sagte demnach zur Pflegeleitung und einem Arzt, dass angemessene Versorgung so nicht zu schaffen sei: "ohne Konsequenz". Dabei galt auf Intensivstationen vergangenes Jahr ein Personalschlüssel von 2,5 Patienten pro Pflegekraft, seit Februar 2021 soll dort eine Pflegekraft sogar maximal zwei Patienten betreuen müssen.

Seit drei Minuten klingelt der Alarm des Patienten

"Ich habe in dieser Schicht keinen Schluck getrunken, geschweige denn gegessen, was gut war, denn so musste ich nicht auf die Toilette", schreibt die Pflegekraft. Als ein "Oberarzt mich anschnauzte, dass der rote Alarm eines Patienten seit drei Minuten klingele und niemand reagiere, zuckte ich nur mit den Schultern. Nach zwei Überstunden saß ich in der Umkleide auf dem Boden und konnte nicht mal mehr aufstehen."

Die Berichte vom Montag lassen sich nicht überprüfen. Sie können zudem aus jedem der acht Vivantes-Krankenhäuser und drei Charité-Standorte stammen. Die Streikleiter versichern, die Schilderungen seien akkurat. An der Veranstaltung in der Zionskirche nahm auch SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey teil.

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Vergangene Woche hatte Giffey vor 150 Streikenden am Neuköllner Klinikum gesprochen. Wie berichtet waren die in Verdi organisierten Pflegekräfte der Vivantes-Kliniken und der Charité am 7. September in einen unbefristeten Streik getreten. Zuvor hatte die Gewerkschaft ein 100-Tage-Ultimatum gestellt.

Verdi fordert einen "Entlastungstarifvertrag", der verbindliche Personalquoten und somit mehr Fachkräfte am Krankenbett erforderlich machen würde. Die Vorstände von Vivantes und der Universitätsklinik versicherten, dass sich die dafür nötigen Pflegekräfte auf dem Arbeitsmarkt so schnell nicht rekrutieren ließen.

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Verdi sammelte auch Berichte anderer Klinikbeschäftigter. Ein medizinisch-technischer Assistent (MTA) schreibt, er habe einen circa 45 Jahre alten Patienten bei einer Herzuntersuchung begleitet. "Er wurde danach zurück ins Bett gelegt und konnte von uns nicht weiter betreut werden. Dann habe ich den Patienten zwischen Tür und Angel angesprochen. Ich stellte fest: Er war komplett wesensverändert, hat nicht mehr normal gelächelt und verzerrt gesprochen." Es sei kein Arzt vor Ort gewesen, erst ein vom Chefarzt herbeigerufener Neurologe stellte fest: "Er hatte einen Schlaganfall erlitten."

"Der Schlaganfall wäre viel früher erkannt worden"

Bei einem Schlaganfall blockiert ein Gerinnsel den Blutfluss ins Hirn, oft sind Lähmungen die Folge. Je schneller der Betroffene behandelt wird, desto höher die Chance, den Schlaganfall ohne bleibende Schäden zu überstehen. Über seinen Patienten sagt der MTA: "Hätte eine Pflegekraft ihn überwacht, wäre der Schlaganfall viel früher erkannt worden."

An diesem Dienstag treffen sich Verdi-Verhandler und Personalchefs von Vivantes und Charité erneut zu Verhandlungen. Während an der Universitätsklinik beide Seiten von "Fortschritten" sprachen, eskalierten die Verhandlungen bei Vivantes zuletzt. Verdi fordert dort neben der erwähnten Entlastung auf den Stationen die höheren Löhne des Tarifvertrags des öffentlichen Dienstes (TVÖD) für die Vivantes-Tochterfirmen.

Deshalb streiken seit Montag auch Reinigungs- und Küchenkräfte der Vivantes-Tochterfirmen wieder. Der rot-rot-grüne Senat ist bislang offenbar nicht bereit, dem Landesunternehmen einen ausreichenden Teil der maximal nötigen 35 Millionen Euro im Jahr zuzusagen, um den "TVÖD für alle" einzuführen.

Ab Dienstag streiken zudem Pflegekräfte in den psychiatrischen Asklepios-Kliniken in Brandenburg. Der viertägige Warnstreik findet in Brandenburg an der Havel, Teupitz und Lübben statt. Zudem gibt es einen ebenfalls von Verdi geführten Arbeitskampf in der Klinik des Maßregelvollzugs. Gefordert wird der in Berlin übliche TVÖD-Lohn.

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