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Belarus-Aktivisten aus Berlin-Pankow: „Eine Stimmung wie zum Ende der DDR“

In Prenzlauer Berg gibt es wieder Friedensandachten – für Belarus. Ina Rumiantseva und ihr Mann Andrej gestalten sie mit. Ein Interview.

Seit Ende August gestalten Ina Rumiantseva und ihr Mann Andrej die Friedensandachten in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg mit. Rumiantseva, die 1976 in der DDR geboren wurde, ist Belarus eng verbunden durch ihren Mann Andrej, der aus Minsk stammt. Zusammen sind beide im Verein Razam organisiert, einer Interessenvertretung der Belarussen in Deutschland, die am Tag der offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahl am 9. August gegründet wurde. Über die Andachten, die Kirche und die aktuelle Lage in Belarus haben wir mit beiden gesprochen.

Die Gethsemanekirche ist ein geschichtsträchtiger Ort, an dem die Friedensbewegung in der DDR sehr aktiv war. Ist das der Hintergrund der jetzigen Andachten?
INA RUMIANTSEVA: Genau. Aus dieser Tradition sind hier vor drei Jahren auch die politischen Andachten entstanden. Damals war Peter Steudtner, ein Gemeindemitglied, für seine politische Arbeit in der Türkei inhaftiert. Und man hat im Sinne der politischen Nachtgebete in den 80er Jahren diese Andachten wieder ins Leben gerufen. Die finden täglich statt. Im Dezember finden nun Belarus-Andachten donnerstags statt. Wir sind uns sehr bewusst ob dieses historischen Bezugs. Wir haben sehr oft Rückmeldungen bekommen von Leuten, die schon in den 80ern beteiligt waren an den Gebeten, dass es eine ganz ähnliche Stimmung sie, die ganz ähnliche Emotionen hervorruft wie in der DDR 1988 bis 1990.

Wie schätzen Sie derzeit die Lage in Belarus ein?
INA RUMIANTSEVA: Hochdramatisch. Für die Menschen verschärft sich die Situation Woche für Woche. Trotz der friedlichen Proteste, die wir seit dem Sommer sehen, setzt das Regime zunehmend auf Abschreckung, und man muss es auch so sagen, auf Terror. Es scheint nur noch um Einschüchterung zu gehen, die Rechtsstaatlichkeit ist außer Kraft gesetzt. Wir hier sind beeindruckt vom Mut der Leute, die trotzdem rausgehen auf die Straße, nicht aufgeben und das Regime quasi mit partisanenartigen Strategien immer wieder herausfordern.

Wie sieht denn der kirchliche Widerstand in Belarus konkret aus?
INA RUMIANTSEVA: Am ehesten äußern sich Vertreter der katholischen Kirche, auch wenn sie sehr vorsichtig sein müssen. Ich glaube der populärste Fall war der des Oberhaupts der katholischen Kirche in Belarus.

ANDREJ RUMIANTSEV: Er wollte im September zurück ins Land einreisen und durfte nicht, was total absurd ist.

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INA RUMIANTSEVA: Es betrifft jetzt in den letzten Wochen auch verstärkt Theologiestudenten, die sich, wie andere Studierende auch, offen gegen die Gewalt aussprechen. Viele sind exmatrikuliert worden. Wir wissen von einem Fall, in dem ein Theologiestudent direkt verhaftet wurde – mit der Exmatrikulation erhielt er seinen Musterungsbescheid. Das ist eine ganz perfide Strategie.

Was wünschen Sie sich für die Entwicklungen in der Zukunft?
INA RUMIANTSEVA: Für Belarus hoffen wir natürlich, dass die Gewalt so schnell wie möglich ein Ende findet und dass es zu einem friedlichen Machtübergang kommt. Hier ist das Allerwichtigste, das Thema in der Öffentlichkeit zu halten. Das ist auch die Idee unserer Andachten. Wir sind überzeugt, dass Aufmerksamkeit die Menschen vor den schlimmsten Szenarien schützt.

ANDREJ RUMIANTSEV: Eine weitere Forderung, die jeder Belarusse jetzt hat, ist die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen. Danach müssen die für die Gewalt Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden. Zu dieser Gewalt zählen Vergewaltigungen und Gewalt gegen friedliche Demonstrierende – es gibt über 4000 gemeldete Fälle, die zu keinem Verfahren geführt haben. Das ist rechtswidrig.

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INA RUMIANTSEVA: Es ist wirklich kein einziges Strafverfahren eingeleitet worden gegen die, die sich schwerster Misshandlung und Folter schuldig gemacht haben, obwohl die Namen zum Teil bekannt sind. Es ist dokumentiert und international anerkannt worden, dass es tausende Fälle von Folter gab, und da ist bis jetzt nichts erfolgt.

ANDREJ RUMIANTSEV: Die letzte Forderung sind dann natürlich freie Wahlen. Es gibt nichts anderes, was Belarussen sich jetzt wünschen. Dieses Recht auf eine freie Wahl wurde den Belarussen versagt.

Was können Sie dafür in der Gethsemanekirche tun?
INA RUMIANTSEVA: Es gibt eine Sache, die ich gerade an die deutschen Besucher in der Gethsemanekirche zu vermitteln versuche. Bei allem Schrecklichen, was in Belarus passiert, erleben wir in Europa, in dem wir ja auch durch eine schwere politische Zeit gehen, gerade etwas unglaublich Positives: dass sich Menschen aus einem urhumanistischen Antrieb heraus zusammengefunden haben und ein unglaublich starkes Wir-Gefühl entwickelt haben. Das ist das, was alle eint, egal, wie die Vorstellungen über die Zukunft dann nachher im Einzelnen aussehen.

Dieser gemeinsame Einsatz gegen Gewalt und für den anderen – selbst wenn man dabei ein Risiko eingeht für sich selbst – das haben wir über Jahrzehnte so nicht gesehen. Das erstaunt uns bis heute und erfüllt uns mit ganz großer Dankbarkeit. Das sehen zu dürfen, miterleben zu dürfen. Ich denke, das wird über Jahrzehnte noch tragen, das wird sich ganz tief eingraben ins Gedächtnis dieser Menschen.

Erkennen das die Menschen in Deutschland auch?
INA RUMIANTSEVA: Durch dieses zeitliche und häufige örtliche Zusammenfallen von unseren Demonstrationen und den Querdenker-Demonstrationen hier in Berlin fällt uns natürlich enorm krass ins Auge, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind. Wenn hier in Deutschland Worte gebraucht werden wie Diktator und Unterdrückung, dann wird uns einfach nur übel, weil wir sehen, was das in der Realität bedeutet. Das sorgt regelmäßig für einen Aufschrei des Entsetzens in der Community der Belarussen, wenn wir sehen, was an den Stellen, an denen wir auch demonstrieren, andere von sich geben. Bei mir sorgt das einfach nur für Unverständnis.

Thomas Lippold

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