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Berlin: Barbara Höllfritsch (Geb. 1944)

Wo immer Heiterkeit zur Schau gestellt wird, lauert in nicht allzu weiter Ferne Traurigkeit.

Wenn ihr Leben in Form einer geometrischen Figur darzustellen wäre, dann in Form der Lemniskate, der schleifenförmigen Acht. Die dunkle Welt trifft auf die helle Welt, und den Durchgang der beiden Welten, den bilden wir.

Ihr Vater hat sie nur einmal kurz gesehen – als Säugling, bevor er in den Krieg zog, freiwillig an die Ostfront. Das war eine der großen Fragen ihres Lebens, warum er die kleine Familie im Stich ließ. „Hat er uns nicht geliebt?“ Sie suchte später sein Grab, ein hoffnungsloses Unterfangen bei so vielen Gräbern in Weißrussland, aber sie fand es und feierte ein letztes Wiedersehen. Ihre Mutter stieß das Kind früh von sich, gab es weg zu Verwandten, zog es wieder zu sich, gab es weg ins Heim, nahm es zurück ins Haus, schickte es, wenn zu wenig Platz war, abends auf dunklem Weg in die kleine Gartenhütte zum Schlafen. Es war ein Hin und Her in der Liebe, was für ein Kind nur schwer zu begreifen ist und für eine Erwachsene als Trauma nur schwer zu überwinden. Sie bewunderte ihre Mutter, sie liebte sie, und sie glaubte, ebenfalls mit 42 Jahren zu sterben. Sie war 21, als die Mutter starb. Um ihr Auskommen musste sie sich keine Sorgen machen, sie hatte geerbt, ein Vermögen, aber sie gab ihr Geld der Bank. Besser wäre gewesen, es unter dem Bett zu verstecken. „Das können Sie Ihr Leben lang nicht aufbrauchen!“

Doch dann überlebte sie den 43. Geburtstag und ging eines Tages erneut zur Bank und erfuhr von der Beraterin, dass sie in Schiffe und Immobilien investiert hatte, die alle nichts mehr wert waren. Von jetzt auf nachher zeigte die Welt ein ganz anderes Gesicht. Das war nicht überraschend für sie. Im Studium hatte sie dem Schriftsteller Gottfried Keller viel Zeit gewidmet, dem vermeintlichen Idylliker, dessen heile Erzählwelt meist nur Kulisse tiefen Unbehagens ist. Wo immer Heiterkeit zur Schau gestellt wird, lauert in nicht allzu weiter Ferne tiefe Traurigkeit. So war es bei ihr auch in der Liebe, dieses Auf und Ab, wenn sich zwei Lebensläufe verschlingen, ein Hin und Her, Ziehen und Zerren an der Schlinge, die bindet und schließlich zur Fessel werden kann. Ihre Ehe war unglücklich, der kluge Mann zu alt, finsterer König Drosselbart, abweisend, herrschsüchtig, aber ihr gelang es, sich zu befreien.

Sie zog nach Spanien, unterrichtete Deutsch in Salamanca, jener spanischen Stadt, in der die Mauren einst den Europäern ihr Wissen mit auf den Weg gegeben hatten. Ein friedliches Geben und Nehmen, das übte sie als Lehrende mit ihren Lernenden, denn die Studenten trafen, so sie es wollten, in ihr stets auch eine Freundin.

Als sie nach Deutschland zurückkam, fand sie schnell ihre eigentliche Berufung: Märchen erzählen. „Ich bin ja selbst im Schweinekoben groß geworden“, scherzte sie, ein wenig Aschenputtel, ein wenig Dornröschen. Zu den Tieren hatte sie eine enge Bindung, zu den Bäumen auch, und hätte einer sie eine gute Hexe genannt, sie wäre vermutlich stolz gewesen. Märchen erzählen unsere eigene Lebensgeschichte in fremden Schicksalen. Jedes Kind, jeder Erwachsene findet sein eigenes Märchen, wenn er nur sucht. Sie bot die Märchen als Spiegel. „Welches dieser Märchen will jetzt erzählt werden?“, fragte sie die Zuhörer. Dann trug sie es vor, auf eine Weise, die kleine wie große Zuhörer aufhorchen ließ, weil alle sich angesprochen fühlten. Der Rhythmus der Lemniskate war auch der Rhythmus ihres Erzählens. Sie zog die Hörer in ihren Kreis, war für sie da und entließ sie als Verständigere.

In der Therapie mit Erwachsenen hielt sie es ähnlich. „Ich bin gar nicht da“, betonte sie immer. Und gab doch mit ihren Fragen diesen kleinen Anstoß, der meist schon genügt, damit das Gegenüber wieder sein Gleichgewicht fand.

Sie lebte mehrere Leben zugleich, als Therapeutin, Märchenerzählerin, Kommunikationslehrerin, was zuweilen Koordinierungsprobleme mit sich brachte. „Bin mit glühenden Reifen durch die Stadt gefahren“, gab sie dann nur lakonisch zur Auskunft. Denn sie wurde ja überall gebraucht. Sie selbst tat sich mit der Ordnung ihres Lebens schwerer. Sie wollte Familie, sie wollte Kinder, sie fühlte diese ungeheure Sehnsucht nach Liebe, die nie zu erfüllen war, von niemandem, weil sie immer auch den anderen Weg gehen wollte, den in die Freiheit.

Von einem Tag auf den anderen wurde es ihr dann plötzlich zu viel, und sie verschwand, ohne ihren Freunden zu sagen, wohin. „Weil ich nicht weiß, ob ich jemals wiederkommen werde.“ In der Fremde ertrug sie die Einsamkeit.

Zu Hause reichte die Zeit nie, wenn sie mit einem anderen Menschen zusammen war. Kaum war der andere gegangen, floh sie vorm Alleinsein ins Kino, ins Konzert, unternahm Spaziergänge im Dunkeln, ohne Furcht. Sie schrieb zahllose Postkarten, um sich in Erinnerung zu bringen, verteilte Geschenke an die Freunde in einer Großzügigkeit, die manchmal befremdlich wirkte.

Sie hatte Angst zuweilen, Lebensangst, auch vor der Krankheit, dem Krebs, den sie vermeintlich überwand. Aber fortan kümmerte sie sich nicht mehr um die Nachsorge. Wenn Ärzte sie zu eindringlich dazu mahnten, wurden sie einfach ausgetauscht. Sie wollte nichts vom Ende wissen. „Ich kann noch nicht genug, ich bin noch nicht genug. Meine ganz große Zeit kommt noch!“ Eine arglose Hoffnung aufs Glück, wie im Märchen, so auch ihr Abschied im Kreis der Freunde. „Jetzt ist die Zeit, die Himmel und Erde verbindet. Ich bin inmitten.“

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