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Berlin: Barbara Engelberg (Geb. 1942)

Sie hingegen zog ganz einfach ihre Zimmertür zu

So viele Fragen sind offen, und niemand, der sie beantworten könnte. Doch es war ja zu Lebzeiten nie anders.

Der Grund für Barbaras Sprachlosigkeit mag in ihrer Kindheit liegen, in der sie sich verloren fühlte zwischen den Extremen. Ihre Geburt fiel mitten in den Krieg, ins bayerische Exil, wohin die Mutter mit der älteren Schwester geflüchtet war. Zurück in Berlin fanden sie ihre Wohnung ausgebombt, die Ehe zerrüttet. Mit dem Vater schwand die katholische Erziehung aus Barbaras Leben, streng blieb sie dennoch: Der neue Mann der Mutter hatte das KZ überlebt, war Kommunist und baute im Wohnzimmer eine Bücherwand auf wie eine Mauer, Marx, Lenin, Stalin. Über die Zeit im KZ sprach er nie, über die kommunistische Idee zu diskutieren war verboten, weil es an ihr nichts zu diskutieren gab.

Mit ihm bekam die Mutter zwei weitere Kinder, arbeitete nebenher in der Gewerkschaftsleitung. Barbara und ihre ältere Schwester fühlten die Überanstrengung, die Last der Geschichte, der ganzen Existenz. Die Schwester reagierte mit Rebellion, wagte nach dem Mauerbau einen Fluchtversuch, kam dafür ins Gefängnis. Barbara hingegen zog ganz einfach ihre Zimmertür zu.

Hinter dieser Tür legte sie Schallplatten auf, studierte Partituren. Wer hat sie zum Gesang gebracht? War es der Mann der Schwester, der Pfarrerssohn, der Barbaras Elternhaus mit Leben füllte, mit Gelächter, Streit und Musik? Man weiß es nicht.

So wenig sie sprach, so schön war ihr Alt, den sie in die Marien-Kantorei trug, ein angesehener Chor, unterstützt von berühmten Stimmen der DDR. Nie sagte Barbara einen Auftritt ab, und sangen sie in Kirchen, so saßen viele im Publikum, die ihre Anwesenheit als Protest gegen die Regierung verstanden.

Barbara aber äußerte sich nie, weder politisch noch religiös, und auch zur Musik sagte sie nichts. Waren andere glücklich über ein gelungenes Konzert, nickte sie still, gab es Unzufriedenheit, blickte sie stumm vor sich hin.

Umso überraschter war die große Schwester, als sie auf der Kinderwunschstation der Charité lag, wo Barbara als Krankenschwester arbeitete. War das dieselbe Barbara, die die Hilfe der Geschwister brauchte, um sich eine Wohnung zu suchen, die die Frisuren der Schwester kopierte, um nicht selbst entscheiden zu müssen, was ihr stand?

Hier, im Krankenhaus, erteilte Barbara glasklare Anweisungen, genoss den Respekt der Kollegen und Ärzte, stieg auf zur Stationsschwester. Kein Schäkern, kein lautes Lachen, kein Lästern, nur emsige, hellwache Betriebsamkeit.

Hoch gingen die Wogen von Trauer und Freude auf dieser Station. Barbaras Art glättete alle Emotionen, und nicht nur hier. Mal machte sie mit den Kollegen eine Reise, mal einen Ausflug, doch die Tür, die sie damals geschlossen hatte, blieb zu. Keine Liebesgeschichte, keine tiefen Freundschaften.

Sie hatte ja den Chor. Das war die Gemeinschaft, in der Barbara singend es wagte, ihr Gemüt bewegen zu lassen und andere zu bewegen. Hätten wir ihr helfen müssen, einen Ersatz zu finden? So fragen die Angehörigen sich nun. Denn plötzlich war Schluss mit der Marien-Kantorei, irgendeinen äußeren Grund wird es gegeben haben, vielleicht, dass der Chor professionalisiert und Barbara ausgesiebt wurde. Kein Wort verlor sie über ihr Ausscheiden. Wie hätte sie, die Stumme, auch von der Ausweitung der Stummheit berichten sollen?

Es blieben ihr die Geschwister. War jemand in der Familie krank, rief man Barbara an. Dann hörte sie zu, maß Fieber, gab Hinweise praktischer Natur, kochte und fügte sich so still und freundlich in das Familienleben, dass ihre Anwesenheit kaum auffiel.

Zufrieden wirkte sie, nie bitter, nie glücklich.

Ihre größte Freude, so schien es, waren die Nichten und Neffen. Mit ihnen ging sie auf den Spielplatz, machte wenig Worte, schon gar keine von sich selbst, und die Kinder wurden ruhig im Schutz dieser Tante.

Nach einem Bandscheibenvorfall ging sie in Rente. Sie wohnte jetzt am Müggelsee. „Ist doch schön hier“, hatte die Schwester bei der Besichtigung gesagt. Barbara, froh, dass jemand ihr sagte, was schön war, nahm die Wohnung sofort. Doch war das nicht viel zu abgeschieden für einen ohnehin schon abgeschieden lebenden Menschen? Barbara führte die Hunde ihrer Nachbarn aus und äußerte sich nicht.

Ihre Demenz begann früh, die ersten Anzeichen gab es noch vor ihrem 60. Geburtstag. Als sie nicht mehr allein leben konnte, lud ihr Bruder sie zu sich nach Eckernförde, richtete mit ihren Möbeln ein Zimmer im Pflegeheim her, und es schien, dass sie den Umzug kaum bemerkte. Fast täglich kam er zu Besuch, und auch die Schwestern waren viel bei ihr.

Am Ende verlor sie den Appetit, lag in tiefem Schlaf, starb, ohne krank zu sein und ohne Schmerzen. Schön sah sie aus im Tod, friedlich und jung.

Nun sitzen die große Schwester und ihr Mann vor all den Fragen, in den Händen die Partituren, die Barbara hinter ihrer verschlossenen Zimmertür so schwungvoll mit ihrem Namen versehen hatte.

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