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Berlin: Barbara Bareiß (Geb. 1954)

Hier sind wir zu nah an der Küche, erneutes Aufstehen, dritter Tisch

Es gibt eine letzte Nachricht, eine SMS von Barbara an ihre Tochter Jana. Eine kurze Frage. In dieser Frage ist so vieles, Zärtlichkeit, ein Plan, die Zukunft: „Könnte Clara nicht ein neues Fahrrad zum Geburtstag gebrauchen?“

Clara, Barbaras Enkeltochter, würde sechs werden und dann ein Schulkind sein, würde zusammen mit anderen Kindern in einem Klassenraum auf niedrigen Stühlen sitzen, die Buchstaben des Alphabets lernen und was eins plus drei ergibt und wie die Bäume im Park heißen. Nach der Schule würde Barbara gemeinsam mit Clara das Fahrrad im Hof anschließen und sie fragen, was sie heute Neues gelernt hat, würde die As und Os in ihrem Heft betrachten und sie loben und denken, dass es doch besser gewesen ist, wie vor ein paar Jahren noch, das Schreiben in Schreibschrift zu lernen, geschwungene, miteinander verbundene Buchstaben, nicht diese scharfkantigen, voneinander getrennten von heute. Sie würde an ihre Zeit als Lehrerin denken, wie sie vor diesen kleinen Menschen stand und ihnen das Bunte, das Vielfältige der Welt erklärte. Und sie würde auch ein wenig traurig sein, denn sie steht jetzt nicht mehr vor einer Klasse von Kindern.

Dabei war dieser Weg, der Lehrerinnenweg, gar nicht vorgesehen. Barbara hatte schon vor, aus dem baden-württembergischen Schorndorf fortzuziehen, aber nur 30 Kilometer weiter, bis nach Stuttgart, um dort Ernährungswissenschaften zu studieren. Aber es gab da diesen jungen Mann, der auf keinen Fall zum Bund wollte, und wie das damals so war, wenn man nicht zum Bund wollte, ging man nach Berlin, und Barbara ging mit.

In Berlin jedoch schwenkte sie um und schrieb sich an der Pädagogischen Hochschule ein, für Mathe und Sport. Sport mochte sie sowieso, schon immer, lief, sprang und warf in einem Schorndorfer Verein. Ohnehin bewegten sie sich als Kinder sehr viel mehr, streiften draußen herum, an der Rems und auf dem Holzberg, sie waren zu Hause ja immerhin zu acht, zwei Brüder, drei Schwestern, der Vater, die Mutter, die Großmutter, und lebten nicht in einem Palast.

Jetzt also Berlin in den Siebzigern, in der wilden Zeit. Barbara sah das alles, tauchte jedoch nie ganz ein in diese turbulenten Tage und Nächte. Die Beatles aber hörte sie, natürlich, bis zum Schluss, Hey Jude, ihr allererster Stehblues.

Sie wohnte auch in einer WG und gründete mit anderen Müttern einen Kinderladen, nachdem Jana auf der Welt war, mit Füßen auf den Tisch und allem Drum und Dran. Doch hielt die Beziehung zu Janas Vater nicht, und dann war es hilfreich, sich mit den anderen Alleinerziehenden um den Kinderladen zu kümmern, wegzufahren oder Doppelkopf zu spielen. Barbara war eine ausgezeichnete Doppelkopfspielerin, mangelnde Konzentration ihres Spielpartners konnte sie leicht aus der Fassung bringen, aber das war nur Ausdruck ihrer Hingabe, ihrer Begeisterung, die ebenso einem Musikstück gelten konnte, einem gelungenen Essen, einer Hortensie, einer Landschaft.

Sie mochte Reisen, die kürzeren an die Nord- und Ostsee, die längeren nach New York, Zypern, in die Toskana. Von jeder brachte sie Fotos mit: Bäume, in deren Astgewirr man Gesichter erkennen kann, Schilder mit absurden Rechtschreibfehlern.

Ihre Unentschiedenheit in Restaurants, fast war es ein Spiel mit dem Namen „Der perfekte Platz“. Setzen wir uns dorthin, alle suchen sich einen Stuhl, nein, hier zieht es, alle wieder hoch, anderer Tisch, nein, doch nicht, hier sind wir zu nah an der Küche, erneutes Aufstehen, dritter Tisch.

Oder die Sache mit den Kriminalromanen: einen Fall anfangen, die Spannung dann nicht aushalten, zum Buchende blättern und den Täter viel zu früh entlarven.

Freunde waren immer wichtig, nicht auf die Zahl kam es an, auf das Zwiegespräch. Keine großen Runden, keine lärmenden Debatten auf Partys.

Zurückhaltung. Die Schüler schnatterten und zappelten und hüpften schon genug im Klassenzimmer, da musste sie nicht noch zusätzlich laut werden. Die Schüler schwärmten von ihr, sie war die „liebe Lehrerin“, die zuhörte, die die Schwächeren nicht einfach überging, die kurz vor Weihnachten alle zum Plätzchenbacken zu sich nach Hause einlud. Sie mochte es eben, mit Kindern zusammen zu sein, selbst als der Krebs sich in ihr festsetzte und sie nicht mehr arbeiten konnte, sich Ausflüge für ihre Enkelkinder auszudenken: mit Clara in den Filmpark Babelsberg oder in eine Ballettaufführung, mit Joscha zum Südkreuz, um sich die Züge anzuschauen, denn er liebt alles, was fährt.

Oder einfach ihre Tochter anzurufen: „Was machst du gerade?“ – „Nichts Besonderes.“ – „Wollen wir spazieren gehen?“ – „Ja, sehr gern.“ Ein wenig laufen, sprechen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen, den Kindern auf ihren Rädern hinterherschauen. An das neue Fahrrad für Clara denken. Das sie ihr nicht mehr schenken konnte. Das Clara aber dennoch bekam. Das neue Fahrrad besitzt, das ist wichtig, eine Gangschaltung, und es ist rosarot und voller Blumen.

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