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Berlin: Babette Herchenröder (Geb. 1946)

"Wenn ich alt bin, will ich nicht denken, ich hätte was ausgelassen!"

Mehr als hundert Trauergäste sind gekommen, um sich von der furchtlosen Amazone zu verabschieden, die 1993 auf ihrer Schimmelstute „Pippi Winnetou“ die Parade zum „1. Internationalen Christopher Street Day“ in Kreuzberg anführte, eine alternative politische Gegenveranstaltung zum CSD-Umzug in Schöneberg. Wie in Gold getaucht, mit Schild und Doppelaxt, eine Brust freiliegend, militanten Feminismus und „queeres“ Denken gleichermaßen verkörpernd.

Die Herbstsonne scheint mild, eben haben Grauhaarige und solche mit Irokesenhaarschnitt, Bewegliche und Behinderte noch gemeinsam „House Of The Rising Sun“ gesungen, nun wiegen sich alle im Rhythmus einer Klezmer-Kapelle unter Konfettiregen am offenen Grab, lachen und weinen. Und immer wieder Rufe: „Gute Reise, Babette!“

Von dieser Reise wird sie leider keinen Bericht, keine Fotos, keine Vorträge mitbringen. Babette ist nun weiter weg als je zuvor.

Schon als Kleinkind ist sie wilder als andere. Hohe Bäume, große Tiere, kalte Bäche – was verboten oder gefährlich ist, reizt. Sie wächst mit Mutter und Oma in einem sächsischen Dorf auf. Ihr Vater verschwand 1946 in einem sowjetischen Gefangenenlager. Ob seine Kriegstätigkeit bei einer deutschen Propagandakompanie damit in Zusammenhang steht, weiß niemand. Als Babette den verhärmten, fremden Mann erstmals sieht, ist sie fünf. Die Eltern verlassen den Osten sofort, sie bleibt bei der Oma. Als sie zehn ist, holt ihre Mutter sie auf abenteuerlichen Wegen in den Westen.

Der Vater macht als Feuilletonist und Autor eine steile Karriere. Aus seinem Schatten zu treten, bleibt ihr lebenslang Ansporn. Nach dem Abitur das Lehramtsstudium in Hamburg und Flensburg, die erste Stelle an einer Problemschule in West-Berlin – eine Ernüchterung. Das verkrustete Kollegium, das schon das Duzen mit der Klasse als Affront empfindet, die realitätsferne Leblosigkeit des Lehrstoffs. Sie will das alles anders machen und rennt gegen Wände. Und kündigt die Stelle: ein Befreiungsschlag.

Ab jetzt heißt ihr Lebensmotto „Wenn ich einmal alt bin, will ich nicht im Lehnstuhl sitzen und denken, ich hätte was ausgelassen!“ Sie reist allein auf die Shetland-Inseln, kaum Menschen, kein Komfort, hartes Klima. Sie arbeitet in einer Fischfabrik, im Straßenbau und als Totengräberin, lernt Schaffelle gerben, schreibt und fotografiert. Dann die weiße Schimmelstute auf einer Wiese im Sonnenuntergang, Liebe auf den ersten Blick, aber „Winnetou“ ist ein Ackergaul, kein Reitpferd. So was kann Babette nicht beeindrucken. Nach einer strapaziösen Reise zu Pferd, monatelang durch Schottland und England, die Ankunft per Fähre in Hamburg, im Gepäck nur Hafer- und Strohsack. Hinter beiden liegen Entbehrungen, Erfahrungen und Glücksmomente, Straßengräben, Scheunen, Schlösser als Übernachtungsorte. Der Ritt durch Hamburg wird zum Medienereignis.

Als Babette ihre Eltern erreicht, ist die Stimmung gedämpft, erst recht, als das Pferd den Vorgarten verwüstet. Per Transporter mit „Winnetou“ geht es nach West-Berlin, und Babette wird zu einer wichtigen Aktivistin der Frauen-, Lesben- und Politszene. Vom besetzten Frauentreffpunkt „Kaffee Winterfeldt“ bis zum Solidaritätseinsatz in Nicaragua – sie ist überall dabei.

Das fordert viel Kraft und bringt auch Enttäuschungen mit sich. Sie entdeckt den Buddhismus für sich, der bringt etwas Gelassenheit und Erdung in ein Leben, das sie so beschreibt: „Bin wie ein Derwisch. Jage mit dem Wirbelwind um mich selbst herum.“ Bei einer großen Stiftung beginnt sie mit Behinderten zu arbeiten, gilt bei der Leitung als chaotisch, aber kreativ. Ihre Klientel liebt sie, mit ihr gibt es die schönsten Ausflüge in die Natur. Sie sammeln Wurzeln, Rinden und Steine, bemalen sie und heben sie auf, ganze Keller voll.

Und Babette fährt weiter durch die Welt, Grönland, Papua-Neuguinea, Island. In Benin tanzt sie mit ihrer Mutter bei einer Voodoo-Priesterin. In Palästina unterstützt sie den gewaltfreien Widerstand, begleitet Medikamenten- und Lebensmitteltransporte, ihr Körper als Schutzschild. Was sie sieht, filmt sie, erschütternde Dokumente, die sie in Deutschland vor Friedensinitiativen zeigt.

Ihre Erkrankung lässt sie sich nicht anmerken, sie steckt bis zum letzten Moment voller Pläne, mischt mit bei „Safia e.V – Lesben gestalten ihr Alter“ und im brandenburgischen Künstlerinnenort „Atelierhof Werenzhain“. Mit ihrer Mutter, bereitet sie eine Fotoausstellung vor. Und schließlich plant sie noch ihre eigene Trauerfeier, ein buntes Abschiedsfest. Erik Steffen

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