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Angeführt von Baader und Meinhof: Angehörige der ersten RAF-Generation auf einem Fahndungsplakat aus dem Jahr 1970.

© Polizei/dpa

Baader-Befreiung am 14. Mai 1970: Die Geburtsstunde der RAF schlug in einer Berliner Villa

Sprung aus dem Fenster: Mit der Befreiung von Andreas Baader begann vor 50 Jahren der Terror der Roten Armee Fraktion. Was geschah am 14. Mai 1970?

Ein Tag im Mai 2020, in der ruhigen Miquelstraße in Berlin-Dahlem herrscht kaum Verkehr. Hausnummer 83 ist eine zweistöckige, weiß gestrichene Villa mit mächtigen Bäumen im Vorgarten. Ein schulterhoher grüner Bretterzaun schirmt das vornehme Haus ab, fast alle kleinteiligen Sprossenfenster im Erdgeschoss sind vergittert.

Die Miquelstraße 83 in Berlin-Dahlem: Hier begann am 14. Mai 1970 die Geschichte der RAF.
Die Miquelstraße 83 in Berlin-Dahlem: Hier begann am 14. Mai 1970 die Geschichte der RAF.

© imago images/Stefan Zeitz

Im Mai 1970 fehlen die Gitter vor den Fenstern. Am 14. Mai vor genau 50 Jahren haben sechs Männer und Frauen keine Mühe, über die Fensterbrüstung in den Vorgarten des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen zu springen.

Sie rennen zu wartenden Autos und jagen mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davon. Die Befreiung des Gefangenen und Brandstifters Andreas Baader ist geglückt.

Aus dem Fenster ist auch Ulrike Meinhof gesprungen. Bis zu dieser Minute ist sie eine renommierte, bundesweit bekannte, streitbare, linke Journalistin. Doch kurz darauf klebt ihr Foto auf Plakaten mit der Zeile „MORDVERSUCH“. Denn Georg Linke, der Hausmeister des Instituts, ist lebensgefährlich verletzt. Die Kugel eines der Befreier hat ihn in die Leber getroffen.

In diesem Moment ahnt noch niemand, wie sehr sich die Republik in den nächsten Jahrzehnten durch diese Aktion ändern würde. Denn die Befreiung von Andreas Baader gilt als die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF).

Bombenattentate, Erschießungen, Entführungen, 54 Tote

Mehr als 20 Jahre Bombenattentate, Erschießungen, Banküberfälle, Entführungen, 54 Tote, Opfer und Täter eingerechnet, 230 Verletzte, Hunderte Millionen Euro Sachschaden. Eine hysterische Gesellschaft, in der die Forderung nach Todesstrafe ertönt. Eine Regierung, die sich im Gleichklang mit der Opposition so massiv juristisch wehrt, dass der Staatsanwalt und spätere Generalstaatsanwalt von Württemberg, Klaus Pflieger, das Gefühl hat, „dass wir auf dem Weg zu einem Polizeistaat sind“. Linke Sympathisanten, die sich irgendwann, angewidert von der Brutalität der Morde, reihenweise von der RAF abwenden.

Das alles ist mit diesen Sprüngen aus dem Fenster verbunden.

Drei Wochen später wird dann deutlich, welche Konsequenzen diese Flucht haben könnte. Denn die Flüchtigen, in erster Linie aber Baader und Meinhof, teilen im linken Szeneblatt „Agit 883“ mit: „Mit dem bewaffneten Kampf beginnen/Die Rote Armee aufbauen“. Die Phase des Terrors ist eingeläutet. 1971 benützt die Gruppe erstmals offiziell den Begriff Rote Armee Fraktion.

[„Der Staat schießt auf uns. Nun schießen wir zurück“: Eine Chronik der RAF in Bildern.]

Baader ist ein aggressiver Macho, Schulabbrecher, Autonarr

Andreas Baader, 1943 geboren, ist der unumstrittene Anführer, schon als er Mai 1970 in der Justizvollzugsanstalt Tegel sitzt. Er hatte 1968, unter anderem mit seiner Freundin Gudrun Ensslin, in Frankfurt Feuer in zwei Kaufhäusern gelegt. „Aus Protest gegen die bewusste Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegen den Vietnam-Krieg“, erklärte Ensslin im Prozess. Das Urteil: drei Jahre Zuchthaus.

Die Frankfurter Brände, hier die Löscharbeiten im "Kaufhof" am 3. April 1968, waren der Prolog des RAF-Terrors.
Die Frankfurter Brände, hier die Löscharbeiten im "Kaufhof" am 3. April 1968, waren der Prolog des RAF-Terrors.

© Roland Witschel/dpa

Nach 14 Monaten Untersuchungshaft werden die Angeklagten auf freien Fuß gesetzt, bis über ihre Revision entschieden ist. Die Revision wird abgelehnt, Ensslin und Baader fliehen nach Frankreich und Italien. Dort reden sie davon, in Deutschland den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Bis dahin ist es nur Gerede. Der Autor Butz Peters, hat in seinem Buch „Tödlicher Irrtum“ ausführlich die Geschichte der RAF und die Befreiungsaktion beschrieben.

Baader ist ein aggressiver Macho, Schulabbrecher, Autonarr, einer, der in der Studentenbewegung nur ein Trupp pseudorevolutionärer Schwätzer sieht. „Die quatschen und ich bring’s“, sagt er. Er will schon früh „Aktionen“. Gudrun Ensslin, die Germanistik-Doktorandin, drei Jahre älter als ihr Freund, ist Baader intellektuell weit überlegen, aber angezogen von seiner kompromisslosen Zielstrebigkeit.

Vor Gericht in Stuttgart-Stammheim: Andreas Baader verlässt am 5. Juni 1975 das Gebäude.
Vor Gericht in Stuttgart-Stammheim: Andreas Baader verlässt am 5. Juni 1975 das Gebäude.

© dpa

Ulrike Meinhof, Chefredakteurin und dann Kolumnistin der linken Studentenzeitschrift „Konkret“, hat über den Prozess gegen Baader und Ensslin geschrieben und die Brandstiftung als eine Art antikapitalistische Tat verteidigt. Ihre Kolumnen bekommen einen immer radikaleren Ton.

Untergetaucht in Wilmersdorf, Reststrafe in Tegel

Als Baader und Ensslin im Februar 1970 heimlich nach Berlin kommen, tauchen sie in Meinhofs Wohnung im Wilmersdorfer Teil des Bayerischen Viertels unter. Doch im April fasst die Polizei Baader bei einer Verkehrskontrolle. Der Liebhaber von Seidenhemden und italienischen Schuhen ist von einem V-Mann des Verfassungsschutzes verraten worden. Bei dem Spitzel wollte Baader Waffen kaufen, um einen Supermarkt überfallen zu können. Er benötigt Geld „für Aktionen“.

Beiträge zur Geschichte der RAF:

Doch die einzige Aktion, die er jetzt erstmal absolviert, ist der Einzug in die JVA Tegel, er soll seine Reststrafe absitzen. Niemand ahnt etwas von den revolutionären Phantasien des Gefangenen.

Für Ensslin ist klar, dass sie ihren Lebensgefährten befreien muss. Unterstützung erhält sie von Baaders Anwalt Horst Mahler, der die Ursprungsidee einer bewaffneten linken Gruppe hatte. Er besuchte Baader und Ensslin schon in Italien und redete mit ihnen über seine Ideen. Aber gegen Baaders Führungsanspruch in so einer bewaffneten Gruppe hatte er keine Chance. In Meinhofs Wohnung wurde dann weiter über den „bewaffneten Arm einer sozialen Bewegung“ fabuliert. In diesen Runden waren neben Baader und Ensslin auch Bekannte von Meinhof und Mahler.

Ein Buchprojekt als Vorwand: der Brief des Verlegers

Der Plan für die Befreiung ist einfach. Aus der JVA Tegel bekommen sie ihn nicht raus, das ist allen klar. Also muss er an einer anderen Adresse fliehen. Der Verleger Klaus Wagenbach schreibt, auf Bitte von Ulrike Meinhof, an einen Verantwortlichen der JVA Tegel. Der möge doch bitte Mitarbeiter des Verlags mehrmals mit Baader sprechen lassen, und zwar mit Meinhof im Schlepptau. Meinhof und Baader verfassten, schreibt Wagenbach, ein Buch über die „Organisation randständiger Jugendlicher“. Die Besuche werden genehmigt.

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Und sehr schnell bittet Meinhof die Verantwortlichen in Tegel, die sollten doch eine Ausführung von Baader genehmigen, und zwar ins Institut in der Miquelstraße 83, dort gibt es eine umfangreiche Bibliothek. Baader müsse Material für das Buch einsehen. Der Wunsch wird abgelehnt, aber nachdem Mahler massiv auf einer Ausführung besteht, darf der Brandstifter Baader doch ins Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen. Ein einziges Mal und natürlich unter Polizeischutz.

Ulrike Meinhof soll bei der Aktion die Überraschte spielen

Die Vorbereitungen für die Befreiungsaktion können beginnen. Die 19-jährige Irene Goergens, die sich um Meinhofs Zwillinge kümmert, besorgt sich mit einer weiteren Frau in einer schummrigen Neonazi-Kneipe in Charlottenburg eine Pistole, eine Beretta, Kaliber 6,35 Millimeter mit Schalldämpfer. Kostenpunkt: 1000 Mark. Ein Alfa Romeo Giulia Sprint wird bei einer Autowerkstatt gestohlen. Außerdem wird ein Krimineller zur Unterstützung engagiert. Ulrike Meinhof dagegen soll bei der Aktion die Überraschte spielen und fassungslos sitzen bleiben, damit sie später erklären könne, sie habe von nichts gewusst.

Das Institut spähen, einen Tag vor der geplanten Aktion, Irene Goergens und Ingrid Schubert aus, die gerade ihr Medizinstudium mit „gut“ abgeschlossen hat. Mit Perücken getarnt, wollen sie angeblich Bücher lesen, interessieren sich aber in der Villa erkennbar mehr für die Fenster des Gebäudes und die Seitentür des Leseraums. „Morgen kommen wir wieder“, sagen sie zum Abschied.

Was zurückblieb: Die Beretta-Pistole und die Perücken von Goergens und Schubert.
Was zurückblieb: Die Beretta-Pistole und die Perücken von Goergens und Schubert.

© Konrad Giehr/dpa

Sie kommen tatsächlich wieder, am 14. Mai, gegen 10.30 Uhr. Da sitzen Baader und Meinhof schon seit 45 Minuten im Lesesaal des Instituts. Die Beiden rauchen pausenlos, Rauchschwaden hängen im Raum, ein Justizbeamter öffnet das Fenster hinter Meinhofs Stuhl. Er verhakt die Fensterflügel ineinander. Goergens und Schubert versuchen vergeblich in den Lesesaal zu kommen. Eine Mitarbeiterin lehnt resolut ab, die Frauen müssen an einem Katzentisch in die Diele warten.

Ein Schuss fällt – aus 75 Zentimetern Entfernung

Gegen 11 Uhr öffnen Goergens und Schubert die Eingangstür, sofort stürzen zwei Maskierte in die Diele. Es sind der zuvor engagierte Kriminelle und wahrscheinlich Gudrun Ensslin. Einer der maskierten Eindringlinge hat eine Pistole mit Schalldämpfer in der einen und eine Gaspistole in der anderen Hand. Und er sieht plötzlich, wie der Institutsangestellte Linke, der den Lärm gehört und in der Diele aufgetaucht ist, in sein Zimmer flüchtet. Ein Schuss fällt, Linke wird aus 75 Zentimetern Entfernung getroffen.

Auch Irene Goergens und Ingrid Schubert ziehen jetzt Waffen aus ihren Taschen, Goergens eine Maschinenpistole, Schubert eine Pistole Reck P 8. Sie rennen mit den Maskierten in den Leseraum, brüllen „Überfall“ und feuern über die Köpfe der Justizwachtmeister, die Baader bewachen sollen. Ein wildes Gerangel entsteht, Goergens und Schubert prügeln sich mit einem Wachtmeister. Da ist Andreas Baader bereits durchs Fenster geflüchtet. Und, völlig unplanmäßig, Ulrike Meinhof springt hinterher. Warum, weiß in diesem Moment nur sie.

Sekunden später sind alle aus der Befreier-Gruppe auf der Straße und kurz darauf verschwunden. Mit Ausnahme des Kriminellen werden sie alle Mitglied der neuen Terrorgruppe.

Georg Linke wankt noch über die Miquelstraße und lässt sich in einem Grundstückeingang nieder. Ein Student, der im Institut einen Aushilfsjob hat und einen Teil des Gerangels mitbekommen hat, findet ihn dort. Der Hausmeister ist so schockiert, dass er die Fragen des Studenten nicht beantworten kann. An Linkes rechten Arm ist Blut zu sehen. Der Student öffnet das Jackett des Hausmeisters und bemerkt eine Schusswunde im Bauchraum. Eine Angestellte des Instituts ruft aus einem Fenster aufgeregt zur Straße: „Das war die Meinhof“. Der Student, der die Gesamtlage nicht überblickt, ruft zurück, sie solle sich lieber um einen Krankenwagen kümmern. Ein weiterer Mitarbeiter des Instituts fährt Linke ins Martin-Luther-Krankenhaus, wo der wochenlang zwischen Leben und Tod schwebt.

Er überlebt seine lebensgefährliche Verletzung und erholt sich vollständig.

„Natürlich kann geschossen werden“, erklärt Ulrike Meinhof

Im Frühjahr 1971 schreibt Ulrike Meinhof in der RAF-Strategieschrift „Konzept Stadtguerilla“ zu Georg Linke: „Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewusst hätten, dass ein Linke dabei abgeschossen wird, sie ist uns oft genug gestellt worden und kann nur mit einem Nein beantwortet werden.“ Das spricht für die weitverbreitete These, dass der angeheuerte Kriminelle den verhängnisvollen scharfen Schuss irrtümlich abgegeben hat, weil er in der Hektik seine Waffen verwechselt hatte.

Ulrike Meinhof bei ihrer Verhaftung im Jahr 1972.
Ulrike Meinhof bei ihrer Verhaftung im Jahr 1972.

© AFP

Wer die Maskierten waren, ist juristisch bis heute nicht geklärt. Keine Frage ist dagegen, dass nach der Aktion der Terror begann. Im Juni 1970 erklärt Ulrike Meinhof in einem Tonbandprotokoll, bezogen auf Polizisten: „Natürlich kann geschossen werden.“ Schubert, Mahler und Goergens werden 1970 gefasst, die RAF-Führungsfiguren Meinhof, Baader und Ensslin 1972.

Letztere verüben 1976 beziehungsweise 1977 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim Selbstmord, Schubert bringt sich 1977 im Gefängnis Stadelheim um. Mahler verwandelt sich in einen Rechtsextremen und Holocaust-Leugner, er sitzt, mit Unterbrechungen, seit 14 Jahren im Gefängnis.

Am 20. April 1998 meldet sich die RAF zum letzten Mal. Sie schickt ein achtseitiges Schreiben an die Nachrichtenagentur Reuters. Die ersten Sätze lauten: "Vor fast 28 Jahren am 14. Mai 1970 entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir das Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte."

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